Ansprache des Bischofs von Eichstätt, Dr. Walter Mixa, anlässlich des Ökumenischen Gottesdienstes zu Beginn des Bundesparteitages der SPD

am 19. November 2001 in Nürnberg, St. Lorenz

Lesungstext: (gelesen von Wolfgang Hoderlein)

Jesus Sirach 3, 2-6, 12-14

Der Herr hat den Kindern befohlen, ihren Vater zu ehren,
und die Söhne verpflichtet, das Recht ihrer Mutter zu achten.
Wer den Vater ehrt,
erlangt Verzeihung der Sünden,
und wer seine Mutter achtet,
gleicht einem Menschen, der Schätze sammelt.
Wer den Vater ehrt, wird Freude haben an den eigenen Kindern,
und wenn er betet,
wird er Erhörung finden.
Wer den Vater achtet, wir lange leben,
und wer seiner Mutter Ehre erweist, der erweist sie dem Herrn.
Mein Sohn, wenn dein Vater alt ist,
nimm dich seiner an,
und betrübe ihn nicht, solange er lebt.
Wenn sein Verstand abnimmt,
sieh es ihm nach,
und beschäme ihn nicht in deiner Vollkraft!
Denn die Liebe zum Vater wird nicht vergessen,
sie wird als Sühne für deine Sünden eingetragen.


Liebe Schwestern und Brüder!

Nürnberg, 19.11.2001. Was ist Humanität? Was ist menschliches Handeln? Welches Bild vom Menschen haben wir? Diese Frage ist in teilweise dramatischer Weise in den letzten Monaten aktuell geworden. Nicht nur dort, wo durch einen brutalen, menschenverachtenden Terrorakt Tausende von Menschen ihr Leben verloren haben, sondern auch in der Diskussion um unser Verhältnis zum menschlichen Leben an seinem Anfang und an seinem Ende stoßen wir letztlich immer auf derartige Fragen: Was macht eine Gruppe von Menschen, was macht die ganze Menschheit zu einer humanen Gemeinschaft? Was hält eine solche menschliche Gemeinschaft im letzten zusammen? Was ist Humanität?

Der Text aus dem Buch Jesus Sirach beantwortet unsere Frage an einem Beispiel, dem Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern. Er steht im Zusammenhang einer weisheitlichen Meditation des vierten Gebotes, das ja gerne in der Weise missverstanden wird, als würde dort eine einseitige Unterordnung der Kinder unter ihre Eltern gefordert. In Wirklichkeit drückt dieses Gebot die ganze Dimension wechselseitiger Verwiesenheit aus, von dem das Verhältnis der Generationen geprägt ist. Die Kirche kombiniert diesen Lesungstext in ihrer Liturgie deshalb mit der Stelle aus dem Kolosserbrief, in dem es heißt: "Ihr Väter, schüchtert eure Kindern nicht ein, damit sie nicht mutlos werden" (Kol 3, 21).

"Wenn sein Verstand abnimmt, sieh es ihm nach und beschäme ihn nicht in deiner Vollkraft". Dieser Satz ist nicht Ausdruck eines althergebrachten Paternalimus, nein, er ist ein Kontrapunkt zu den hochaktuellen Versuchen, alle menschlichen Beziehungen als Geschäfte zum wechselseitigen Vorteil zu deuten. Er ist ein Kontrapunkt dazu, menschliche Beziehungen in reine Kosten-Nutzen-Rechnungen einzubringen. Zugegeben, eine verlockende Vorstellung in Zeiten, in denen das Vorzeichen von Angebot und Nachfrage scheinbar eine ganze Gesellschaft prägt.

Der Text des Weisheitslehrers spricht eine andere Sprache. Humanität, gerechtes menschliches Verhalten, herrscht nicht dort, wo der Stärkere "in seiner Vollkraft" das Leitbild menschlichen Verhaltens darstellt, sondern menschliches Verhalten wächst, wo der Schwache, Hilfebedürftige das "Gesetz des Handelns" bestimmt. Und gerade das Verhältnis von Eltern und Kindern, die Familie ist der Ort, wo diese Humanität zentral verankert ist.

Dies gilt in keiner Weise nur für das Verhältnis der Jungen zu den pflege- und hilfsbedürftigen Alten, es gilt auch umgekehrt für das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern. Wir haben uns angewöhnt, die Erziehung und Ausbildung der nächsten Generation als "Investition in die Zukunft" zu interpretieren und diese Vorstellung hat etwas richtiges. Sie drückt aus, dass alle unsere Bemühungen zukunftslos sind, wenn sie nicht in die fähigen und verantwortungsvollen Hände der nachwachsenden Generation gelegt werden können. Aber "Investition in die Zukunft" legt auch das Missverständnis nahe, als sei das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern, der Lehrer zu ihren Schülern, der Gesellschaft zur Jugend grundsätzlich funktionaler Art und entsprechend zu regeln.

Das Gegenteil ist richtig. Das Beispiel der Familie zeigt uns deutlich, dass es Bereiche gibt, die unserer bewundernswerten Erfindungskraft entzogen sind, weil sie ihr vorausgehen. Familie als Ort der grundlegenden Einübung in personales Miteinander und menschliches Umgang geht allen menschengemachten Regelungen voraus. Unsere Verfassung ist sich dieser Tatsache bewusst und stellt die Familie daher unter ihren besonderen Schutz. Der Staat macht nicht die Familie, so wie er die Menschenrechte nicht macht, sondern er findet sie vor und stimmt seine Ordnung so ab, dass Ehe und Familie in ihr sein können. Damit entzieht er sie und ihre Mitglieder auch dem Druck des Funktionierens und des Sich-Rechnens. Denn die Familie lebt ja nach einer anderen Logik. In ihr werden Selbstlosigkeit, Vertrauen und Offenheit als Grundvoraussetzungen personaler Beziehungen erlebt. Gerade darin liegt ja der unverzichtbare Wert gelungenen Familienlebens: Vertrauen zu haben und zu bekommen, Hilfe zu geben und zu erfahren, Konflikte austragen zu können ohne Kündigungsängste haben zu müssen, kurz: als Person reifen zu können.

Wir dürfen und müssen an dieser Stelle bei unserer Verfassung in die Lehre gehen. Es gibt Güter, die unseren legitimen Vorteilsrechnungen vorausgehen und diese Güter stehen in einer Ordnung, die wir bereits vorfinden, wenn wir mit unserer planenden Arbeit beginnen. Aus der Güterordnung ergeben sich Rechte, die Staat und Politik nicht hervorbringen oder zugestehen, sondern die sie vorfinden, bejahen und schützen. Dazu gehört z.B. ganz elementar das Recht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen und auch das Recht, für diese Tätigkeit genügend Zeit und finanzielle Spielräume zu haben.

Uns Christen fällt es nicht schwer, diese Güter und ihre Ordnung zu bejahen, weil wir in ihnen die gütige Hand Gottes erkennen. Er hat uns in eine Welt hineingestellt, in der unser Leben gelingen, in der wir unser Heil finden können. Mit dieser Einsicht ist freilich auch ein Auftrag verbunden, der manchmal eine harte Pflicht werden kann, nämlich diese Güterordnung zu verteidigen, wo sie im Getriebe des Planens und Rechnens unterzugehen droht. Das ist der oft zitierte "gesellschaftliche Auftrag der Christen und der Kirchen". Hier melden wir uns zu Wort in Situationen, in denen Güter dieser Ordnung bedroht sind.

Das gilt für den Bereich der Familie ebenso wie für die aktuelle Frage nach einer angemessenen Reaktion auf die wirkliche Bedrohung, die sich uns in den furchtbaren Gewaltakten des 11. Septembers offenbart hat. Denn auch in diesem Bereich gibt es ein zentrales Gut, den Frieden und es gibt eine Ordnung, in der dieses Gut seinen Platz hat. Die deutschen Bischöfe haben diese Ordnung auf den Begriff "gerechter Friede" gebracht. Diesen Titel trägt unser Wort zum Frieden vom September 2000. Es ist die Aufgabe der Christen, diesen Zusammenhang in die gesellschaftliche Diskussion einzubringen und darauf zu drängen, dass er ausreichend berücksichtigt wird. Auf diese Weise artikulieren sie gerade nicht ihr Misstrauen gegenüber den Vertretern der staatlichen Ordnung, sondern unterstreichen im Gegenteil ihr Vertrauen in diese Ordnung selbst, die ja davon lebt, dass moralische Bedenken ausgesprochen und in die Debatte eingebracht werden.

Menschliches Zusammenleben in Gesellschaft und Staat ist nur dort möglich, wo diejenigen Güter anerkannt werden, die Gesellschaft und Staat vorausliegen und um deren Verwirklichung willen sie da sind. Als Christen dürfen wir uns nicht schämen, immer wieder auch den letzten Horizont deutlich zu machen, vor dem wir dies tun und um dessen wegen wir es tun. Am Beispiel der Familie und in der Sprache des Weisheitslehrers: "Wer den Vater achtet, wird lange leben, und wer seiner Mutter Ehre erweist, der erweist sie dem Herrn". Amen.

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