"Ohne Vergebung gibt es keinen Frieden"

Vortrag von Bernd Gärtner anlässlich der Feier des Weltfriedenstages in Schwerin und Rendsburg, 26. / 27. Februar 2002

Dipl.-Theol. Bernd Gärtner, Referent der Festvorträge
Schwerin / Rendsburg, 26./27. 2.2002. Der heutige Weltfriedenstag der kath. Militärseelsorge steht unter dem Motto: "Ohne Vergebung gibt es keinen Frieden". Papst Johannes Paul II. hat in seinem Aufruf zu diesem Tag die einzelnen Schritte genauer formuliert: "Kein Friede ist möglich ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung". Es ist ein weiteres Wort in einer langen Reihe von Äußerungen, von Mahnungen zum Frieden in den letzten Jahrzehnten.

Übrigens stehen kath. Kirche und Papst hiermit in einem großen ökumenischen Zusammenhang: vom Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf ist die Zeit von 2000 bis 2010 als die "Dekade für die Überwindung von Gewalt" ausgerufen worden. Den Kirchen und Gemeinden ist aufgegeben, wie es in der Information zu dieser Dekade heißt, "gemeinsam für Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung zu arbeiten".

Gestatten Sie mir, in diesem Zusammenhang als ein Beispiel für die Bemühungen vieler weiterer Gruppen um Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung auch die "Wochen der Brüderlichkeit" zu erwähnen, die die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Deutschland seit nunmehr 50 Jahren jeweils im März begehen. Sie wenden sich gegen jede Form der Judenfeindschaft, des Rechtsextremismus, der Diskriminierung Einzelner oder Gruppen aus religiösen, politischen, sozialen oder ethnischen Gründen und gegen Intoleranz und Fanatismus.

Friede - der große Wunsch, der neben der Gesundheit sicher am meisten auf den Neujahrskarten den Verwandten und Bekannten geschrieben wird; den man sich am meisten wünscht für sein privates Leben wie für die ganze Welt. Unfriede in der Familie, in der Nachbarschaft, im Berufsumfeld kann dem Einzelnen ebenso zusetzen, ihn krank machen, die Zukunft beeinträchtigen wie ein Krieg zwischen Staaten mit seinen Zerstörungen. Darum ist Friede für beides gleich zu erhoffen.

Diese Sehnsucht nach Frieden ist in der Bibel im Buch des Propheten Jesaja in einer Vision, einem Bild beschrieben:

"Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange. Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist." (Jes 11, 6-9)

Ein wunderschönes Bild, das zeigen will, wie Tiere, die sich normalerweise fressen bzw die gefressen werden, die Aggression und die Angst voreinander verlieren und glücklich miteinander leben können. Bild unseres Wunsches, wie diese Welt, die uns alle trägt, wie unser Leben aussehen möchte, und wie Gott die Welt haben möchte. An ihm, an seiner Weisung für uns Menschen, hängt diese Vision: "denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist." Wenn wir ihn erkannt haben, nach seiner Weisung leben, dann haben wir das Paradies auf Erden - denn Gott will ja unser Bestes. Bei einem jüdischen Autor fand ich den Hinweis, dass eine solche Situation in der Bibel vorher bereits beschrieben wird: alle Tiere sind in der Arche Noah, und es wird keines gefressen. Alle leben friedlich nebeneinander, solange sie in der Arche sind.

Was ist denn der Unterschied von der Situation in der Arche zu der Wunschsituation, die uns der Jesaja beschreibt? In der Arche Noah ist es ein Zwangsfrieden, aus der Not des Überlebenwollens und Überlebensollens geboren. Draußen tost das Wasser, die Lebewesen in der Arche überleben nur, wenn sie zusammenhalten. Als der Zwang wegfällt, fängt das Fressen und Gefressenwerden, das Hauen und Stechen und das Gehauenwerden und Gestochenwerden wieder an. Friede aufgrund von äußeren Bedrängnissen - keine tiefer gehende Veränderung der Zustände, die die Bibel als "paradiesisch", als heil bezeichnen würde.

Von diesen paradiesischen Zuständen ist unsere Welt heute noch weit entfernt. Die konkreten Verhältnisse haben bewirkt, dass Mitteleuropa in den vergangenen fast 60 Jahren von Krieg oder schweren Bürgerkrieg verschont worden ist:

- die Aufteilung der Welt in zwei gleich starke Blöcke, die bei uns besonders aneinander stießen, die Abschreckung mit dem Potential, sich gegenseitig und die ganze Menschheit auslöschen zu können. Auch der nach dem 11. September von den USA ausgerufene Kampf gegen den Terrorismus ist ein Kampf mit den Mitteln des Starken gegen verbissen kämpfende kleine Gruppen. Und - wenn ich selbstverständlich glücklich bin über den Frieden in unserer Region - die Zeit, die mir gegeben ist für diesen Vortrag würde nicht ausreichen, die Kriege, die in diesen Jahrzehnten in anderen Teilen der Welt stattgefunden haben und zur Zeit noch andauern, alle aufzuzählen. Viele von ihnen werden auch als Stellvertreterkriege bezeichnet - auch in Afrika oder an anderen Weltgegenden kämpften von den jeweiligen Blöcken unterstützte Parteien.

- Politische und wirtschaftliche Bindungen mit anderen Staaten Europas, der westlichen Welt, der Nato, die einen Krieg zwischen Nachbarn praktisch ausgeschlossen haben. Aus den Erfahrungen der Kriege wurden in Deutschland Lehren gezogen: das Wissen, was ein moderner Krieg bedeutet, wie viel Leid und wie viel Tod er bringt; das Wissen um die eigene Schuld an den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Daher die Aufforderung, von deutschen Boden darf kein Krieg mehr ausgehen. Das hat nicht zuletzt dazu geführt, dass Deutschland die starke Einbindung in die europäische Staatengemeinschaft gesucht hat. Politische und wirtschaftliche Bindungen machen einen kriegerischen Alleingang unwahrscheinlicher.

- man hat auch versucht, das auszuschließen, was diesen schwärzesten Punkt der deutschen Geschichte wohl mit entstehen ließ. Darum wurde u.a. besonders gefördert:

* ein demokratisches Bewusstsein in den Menschen, Kritikfähigkeit;
* die demokratische Staatsform;
* eine Politik, die die Überwindung von Hass zwischen den Völkern zum Ziel hat - z.B. die Aussöhnung mit dem "Erzfeind" Frankreich und mit Polen;
* die Überwindung konfessioneller Spannungen;
* eine soziale Ordnung in Deutschland, die die Interessen aller Schichten einigermaßen berücksichtigt;
* eine unabhängige Gerichtsbarkeit;
* nicht zuletzt auch eine Bundeswehr, für die die gleichen politischen und rechtlichen Standards gelten. Wesentlich mitgebaut an dieser Ordnung haben Christen aller Konfessionen, sie haben Prinzipien der Bibel, der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik in die Gesetzgebung mit eingebracht haben.


- Es hat den inneren und äußeren Frieden natürlich auch unterstützt, dass sich unsere wirtschaftliche Lage so gut entwickelt hat, dass es nicht zu sozialen Spannungen geführt hat und Deutschland reich genug ist, auch 4-5 Millionen Arbeitslose zu ernähren und gleichzeitig noch Kosten für die Entwicklung der unter dem sozialistischen Regime vernachlässigten Infrastruktur Ostdeutschlands mit zu tragen.

So konnten viele innere und äußere Spannungen abgebaut und ein Boden bereitet werden, der den Frieden möglich macht.

In anderen Teilen der Welt sind die Voraussetzungen ganz anders. Beispielsweise in Nordirland. Vor einigen Monaten gingen Bilder um die Welt, die sich mir tief eingeprägt haben: 5 - 6 jährige Kinder werden von ihren katholischen Eltern in Belfast durch die Straße zu ihrer Schule gebracht. Polizisten müssen den Eltern und Kindern ihren Weg bahnen, sie schützen. Die protestantischen Anwohner stehen an der Straße, schreien Hassparolen, pfeifen, zeigen auf alle möglichen Arten ihre Ablehnung, werfen Steine, ein Mädchen wird schwer verletzt.

Mir tun in dieser Situation zunächst einmal die Kinder leid, die die Zusammenhänge doch noch nicht kennen können und quasi als Mittel zum Zweck - Recht bekommen und Recht behalten - eingesetzt werden. Welche Gefühle hätte ich als Kind in einer solchen Situation? Mit Sicherheit hätte ich panische Angst, aus der sich dann irgendwann Hass auf die "Feinde" bildet. Die nächsten Konflikte sind vorprogrammiert. Ein Konflikt gebiert ihren eigenen Nachwuchs. Der tragische Nordirland-Konflikt hat seit Ende der 60-er Jahre zeitweise in bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen oder Morden mehrere tausend Tote gefordert.

Versuche, gegnerische junge Menschen zusammenzubringen, hatten kurzfristig Erfolg, man lernte sich kennen und merkte: die andere Seite besteht auch aus Menschen, mit denen man durchaus friedlich zusammensein kann. Doch beim Rückkehren in die eigene Gruppe zeigten sich deren Zwänge als stärker - man kam nicht mehr zusammen.

Nordirland zeigt, dass langandauernde politische Unterdrückung (von Engländern zu Iren), wirtschaftliche und soziale Abhängigkeit den Hass so tief werden lässt, dass es lange dauert, dem bisherigen Unterdrücker und Gegner auch Umdenken zuzutrauen.

Zunächst müssen Voraussetzungen bzw Rahmenbedingungen für Entspannung verbessert werden: Gleichbehandlung aller Bevölkerungsgruppen, gleiche wirtschaftliche Entwicklungschancen und Bildungschancen für alle, die Polizei gleichrangig von beiden Bevölkerungsgruppen zu besetzen - notwendige Voraussetzung für Frieden in vielen Bürgerkriegen.

Friede ist möglich, wenn den Opfern Recht geschieht, wenn Gerechtigkeit hergestellt wird. In Südafrika haben die Wahrheitskommissionen bisher zur friedlichen Entwicklung beigetragen, weil hier zunächst die Opfer gehört und ihrem Leid Gehör verschafft wird. Erst dann werden die Täter befragt und mit den Opfern konfrontiert. Notwendig ist aber, dass beide - Opfer wie Täter - sich der Tat stellen. Auch der Täter muss zu seiner Verantwortung stehen. Sonst ist der Weg der Aufarbeitung auch für das Opfer nur schwer gangbar. Eine gerichtliche Verfolgung der Tat wird meistens ausgeschlossen.

Ein anderes Beispiel. Wäre es nicht verständlich, wenn die Judenverfolgung und die Vernichtung von 6 Millionen Juden Europas bei den Überlebenden nur Hass und Ablehnung bewirkt hätte? Scheint angesichts ganzer ausgelöschter Familien ein anderes Denken und Fühlen realistisch? Und doch erlebe ich es: Da sagt ein jüdischer Überlebender der Shoa: ich habe verschiedene KZ durchlebt, grausige Dinge erlebt, jahrelang in ständiger Todesangst gelebt, fast meine ganze Familie ist ermordet worden. Aber ich habe keinen Hass auf die Deutschen; denn ich habe auch einen jungen SS-Mann erlebt, der sich weigerte, eine Frau und ihr kleines Kind zu erschießen; einen Deutschen Oscar Schindler, der mit Phantasie, Beharrlichkeit und guten Beziehungen 1000 jüdische Frauen und Männer gerettet hat; ich habe deutsche Frauen und Männer erlebt, die andere unter eigener Todesgefahr versteckt oder versorgt haben. Auch diesen Teil der Deutschen gab es. Mit geht es nicht um Rache. Mir geht es darum, dass so etwas nicht wieder geschieht; darum soll die Jugend von Betroffenen, von den Opfern authentisch hören, was sie damals erleben mussten. Darum gehe ich für Gespräche in Schulen, halte Vorträge - obwohl mich das immer wieder aufwühlt und mir die Erinnerung an das Erlittene dann den Schlaf raubt. (Als Beispiel für viele Mietek Pemper am 12.2. bei Biolek)

Zu erfahren, dass sich die Menschen in Deutschland geändert haben, dass die Schuld eingestanden wird, dass dieses deutsche Volk sich für Frieden in unterschiedlichen Gegenden der Welt einsetzt, öffnet den Weg für Versöhnung. Manche der NS-Opfer wie der Geiger Jehudi Menuhin haben bereits kurz nach Kriegsende wieder Deutschland besucht und zur Versöhnung aufgerufen. Andere haben sich manchmal Jahrzehnte lang gegen einen Besuch in Deutschland gewehrt, die Kraft dazu nicht gehabt, in das Land der Täter zu kommen, haben dann aber doch den Weg gehen können und sind nun lebendige Zeugen dieses grausamen Abschnitts der Geschichte und Beispiele für Versöhnung.

Manchmal dauert es länger, bis sich die Emotionen des Hasses sich gelegt haben. Um die Konfliktparteien in solchen Fällen auseinander zu halten, kann eine Friedenstruppe wertvolle Vorarbeit zum Frieden leisten. Viele UN-Operationen und der Einsatz auf dem Balkan oder in Afghanistan sind solche friedensstiftenden Einsätze.

Friede braucht alle Beteiligte - Opfer und Täter - und in manchen Fällen hat jeder etwas von beiden. Friede braucht außerdem akzeptierte Vermittler. Friede braucht die Veränderung ungerechter Zustände, die zu den Auseinandersetzungen geführt haben - Friede braucht Gerechtigkeit. So können die Beteiligten um des Lebens mit dem Leid der Vergangenheit und um der Zukunft willen sich versöhnen.

Unser Friede gleicht dem der Arche Noah. Wir handeln im allgemeinen mehr aufgrund von Druck, aus Angst. Von der Friedensvision des Jesaja sind wir weit entfernt. Aber eine friedvolle Welt, wie sie dort beschrieben wird, immer als Ziel der Sehnsucht vor sich zu haben und dafür zu arbeiten, ist eine wichtige Voraussetzung von Zukunftsgestaltung. Dazu kann jeder von uns seinen Beitrag leisten - ob in Friedensmission auf dem Balkan oder in Afghanistan, ob in der Aufarbeitung von Unrecht in der Vergangenheit, in seiner Nachbarschaft oder seiner Familie.

Dipl.-Theologe Bernd Gaertner ist Referent für Erwachsenenbildung im Erzbischöflichen Amt Kiel und Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Schleswig-Holstein

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