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Globalisierte Welt - Globalisierte Weihnacht

Derzeit sind etwa 9.000 bundesdeutsche Soldaten jenseits unserer Grenzen in harten Auslandseinsätzen aktiv. Viele von ihnen werden daher leider das Weihnachtsfest 2007 weit weg von ihren Familien feiern müssen. Die Geschenke und lieben Briefe aus der Heimat wird nicht der Weihnachtsmann in Rot und Weiß, sondern die Feldpost im "Flecktarn" der olivfarbenen Uniform bringen.
Aber trotz des Verzichts auf die vertraute Feier des Weihnachtsfests in der Familie zu Hause wird so mancher Soldat gerade in dieser, auf den ersten Blick so "unweihnachtlichen", Situation den tieferen Sinn der Heiligen Nacht erfassen. Die Weihnachtsbotschaft wurde ja stets als Friedensbotschaft verstanden. Zu allen Zeiten haben Menschen begriffen, dass der Frieden über den Fluren Betlehems in erster Linie denen verheißen ist, die den Frieden bitter vermissen. Wenn die Soldatinnen und Soldaten Weihnachten an wenig friedvollen Plätzen der Erde feiern müssen, dann tun sie dies, um die Botschaft des Friedens dort nicht verstummen zu lassen und Hoffnung auf den Frieden zu wecken.

Friedensbotschaft in der Bibel

Eine Textstelle im Alten Testament, welche die Kirche stets als einen prophetischen Vorgriff auf das wunderbare Geschehen zu Betlehem verstanden hat, findet sich beim Propheten Jesaja, im 52. Kapitel. Jesaja hat seine Verheißung angesichts der Stadt Jerusalem, die in Trümmern lag, gemacht. Er spricht von einem "Freudenboten", "der Frieden ankündigt, der eine frohe Botschaft bringt und Rettung verheißt" (Jes 52,7).
Nach christlichem Verständnis hat sich diese Weissagung im Stall von Betlehem erfüllt: In dem kleinen, wehrlosen Kind, das dort in der Krippe liegt, zeigt sich Gott. Der Allmächtige spricht von sich in diesem ganzen Leben, das Jesus Christus von der Geburt im Stall bis zum Kreuz von Golgota und zur Auferstehung geführt hat.

"Alle Enden der Erde sehen das Heil unseres Gottes", heißt es beim Propheten Jesaja (Jes 52, 10) weiter. Auf Gottes eigene Weise geht es an Weihnachten um Globalisierung: "alle Enden der Erde", d. h. der ganze Globus soll Gottes Heilswirken erfahren. Es geht darum, dass die Menschen in all ihrer Verschiedenheit vor Gott gleich sind in ihrer Würde. Gott will keinen von seiner Liebe ausschließen: Nicht die Menschen in Deutschland oder Afghanistan, im Kongo oder dem Kosovo, in Somalia oder dem Libanon, noch sonst wo auf der Welt. Alle hat er gleichermaßen ins Leben gerufen, als er uns den Lebensodem gab.

Die Soldatinnen und Soldaten werden bei ihren Einsätzen fern der Heimat aber auch erfahren, dass diese Schöpfungsordnung, die von Gott intendierte Würde aller, gerade an ihren Einsatzorten oft kaum zum Zuge kommt. Woran liegt das? Auf einen Faktor will ich im Folgenden zu sprechen kommen. Er ist in der mir vorgegebenen Themenstellung von der "Globalisierten Welt" bereits benannt. Und mit ihm hat es auch zu tun, dass Soldaten Dienst in den Krisenherden der Welt verrichten müssen.

Globalisierung der Wirtschaft

Die Globalisierung, wie sie bisher hauptsächlich gestaltet wurde, bezieht sich doch eher und zu einseitig auf die Wirtschaft. Sie ist vor allem während der 90er Jahre sehr asymmetrisch verlaufen. Entgegen den Versprechungen, mit einer globalen Wirtschaftsliberalisierung werde sich der Wohlstand aller vermehren und Armut werde bekämpft, wuchs die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen den reichen Industrieländern des Nordens und den armen Entwicklungsländern. Die Armen machten die Erfahrung, dass die Wirtschaftsglobalisierung zur verschärften Ausgrenzung der Armen und der armen Länder beiträgt. Nur ein relativ kleiner Teil der Menschheit ist Nutznießer jenes Prozesses, durch den Märkte und Produktionen in verschiedenen Ländern immer mehr voneinander abhängig werden. Trotz der staatlichen Unabhängigkeit vieler in früheren Zeiten kolonialisierter Völker konzentriert sich als Folge der Globalisierung die Macht mehr und mehr in den Händen einer relativ kleinen Zahl von Staaten und Unternehmen insbesondere des Nordens. Ihre Macht reicht somit über den ganzen Erdball und in zahlreiche Lebensbereiche hinein - schätzt man doch, dass für die ganze Welt wichtige Entscheidungen von den Mächtigen von rund 30 Nationen und 60 Großunternehmen getroffen werden.

Es soll dabei gar nicht bestritten werden, dass von der Internationalisierung und Verdichtung der wirtschaftlichen, finanziellen, kommunikativen Kooperation und Interaktion wichtige Impulse für die Modernisierung und die Ausweitung von Wohlstand, Lebenschancen und Lebensqualität ausgehen. Zu viele Menschen bleiben davon aber ausgeschlossen. Man kann kaum bestreiten, dass die negativen Auswirkungen der Globalisierung auf viele einzelne Menschen, den Zusammenhalt von Gesellschaften, die Entwicklung einzelner Länder und ganzer Regionen, auf das ökologische Gleichgewicht und die Qualität demokratischer Politik und Strukturen bisher die Vorteile der Globalisierung bei weitem überwiegen. Andere Merkmale von Globalisierung, wie z. B. die Solidarität und Gerechtigkeit, müssen unbedingt verstärkt werden.

Das Schreiben der deutschen Bischöfe "Gerechter Friede" vom September 2000 spricht in diesem Sinne zwar zu Recht von den "Chancen der Globalisierung" - aber auch davon, dass dieser weltweite ökonomische Prozess de facto eine "weitreichende Entsolidarisierung im Zeichen wachsender Ungerechtigkeit" bewirkt habe. Die Bischöfe beklagen die "wenig ermutigenden Verteilungswirkungen der Globalisierung", den Verelendungsdruck und die Ausgrenzung vieler armer Länder.

Blick über den Altar der Kirche "Dominus Flevit" am Ölberg in Jerusalem auf den Felsendom
Die Globalisierung unter dem Vorzeichen des ungebremsten Kapitalverkehrs drängt viele Menschen an den Rand. Ganze Länder werden marginalisiert. Tatsache ist: Der Abstand zwischen Reich und Arm nimmt beständig zu. Mittlerweile besitzt das reichste Fünftel der Weltbevölkerung (gemessen am Bruttoinlandsprodukt) etwa neunzigmal mehr als die ärmsten zwanzig Prozent. Während gerade einmal rund 360 Personen (und ihre Familien) auf dieser Erde die Hälfte des Reichtums unseres Planeten besitzen, befinden sich fast zwei Milliarden Menschen heute in größerer Not und Misere als noch vor 15 oder auch 20 Jahren. Rund drei Milliarden Menschen müssen von drei Dollar pro Tag oder weniger leben. Über 1,2 Milliarden Menschen leben in extremer Armut, müssen also mit weniger als einem Dollar pro Tag ums bloße Überleben kämpfen. Über 800 Millionen Menschen hungern. Mehr als 24.000 verhungern täglich. Hinter diesen erschreckenden statistischen Angaben stecken noch erschreckendere Einzelschicksale. Und gerade der Blick auf diese Schicksale von Personen, Familien, vor allem Kindern oder kleiner ethnischer Gruppen darf uns nicht abhanden kommen. Globale Wirtschaftsprozesse verdecken nur allzu rasch, dass es um das menschliche Antlitz der Erde geht. Prozentzahlen und Statistiken über Wirtschaftswachstum wollen aufhellen, verdecken aber die breite Spur der Globalisierungsverlierer.

Zwar haben einige Länder des Südens - z. B. die "Tigerstaaten" Asiens - durch die Globalisierung teilweise gewonnen. Weite Teile Afrikas aber sind Globalisierungsverlierer! Der Prozess der Globalisierung forciert neue Machtverhältnisse und schafft dadurch neue Herrschafts- und Abhängigkeitskonstellationen. Bestimmte Gruppen profitieren von diesem Prozess, breite Schichten verlieren durch ihn. Das gilt sowohl international, im Verhältnis der Staaten untereinander, als auch innerhalb einer Gesellschaft, in der sich Unterschiede und Konfliktlagen zwischen den relativ wenigen Wohlhabenden und den vielen Globalisierungsverlierern verschärfen. Und gerade dadurch wird die Sicherheit von unzähligen Menschen gefährdet.

Sicherheit und Globalisierung

Durch den 11. September 2001 ist m. E. der Sicherheitsbegriff ins Rutschen geraten. Er wurde mehr und mehr einseitig von der US-Administration auf den Terrorismus Bin Ladenscher Prägung hin definiert. Nicht dass wir diese Gefahr unterschätzen würden, aber es gilt doch auch, gewisse Zusammenhänge in einem anderen Licht zu betrachten.

Die Sicherheit der Armen war schon vor dem 11. September fundamental bedroht. Viele tausende Opfer fordert täglich die Armut. Wo ist Sicherheit für eine Mutter, die zusehen muss, wie ihr Kind verhungert? Wie ist es um die Sicherheit von Frauen bestellt, wenn in manchen Regionen jede achte während der Schwangerschaft oder bei der Geburt stirbt, nur weil keine Krankenschwestern oder Ärzte vorhanden sind, die diesen Frauen beistehen können? Dort, wo Leben beginnt, droht der Tod so unmittelbar. Wie viele Kinder trinken mit dem verunreinigten Wasser aus Bächen und Flüssen die zum Tode führenden Krankheitskeime? Also lebensbedrohende Unsicherheit durch fehlendes sauberes Trinkwasser. Oder lebensnotwendige Medikamente stehen auf Grund von globalen Marktmechanismen den Armen nicht zur Verfügung. Die Liste der Beispiele ließe sich beliebig verlängern. Und sie macht auf einen Skandal aufmerksam, den es eigentlich nicht geben dürfte. Denn noch nie wurden weltweit so viele Güter produziert und standen Reichtümer zur Verfügung wie heute. Diese müssten bei weitem für ein menschenwürdiges Leben aller reichen.

Die Vereinten Nationen haben im Jahr 2000 mit den so genannten Millenniumsentwicklungszielen einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung getan. Bis zum Jahr 2015 sollten z. B. die Armut halbiert, Grundbildung für alle Kinder ermöglicht, die Kindersterblichkeit um zwei Drittel gesenkt, die Müttersterblichkeitsrate um drei Viertel vermindert und wirtschaftlich eine globale Partnerschaft für die Entwicklungsländer vorangetrieben werden. Die Umsetzung solcher Ziele als Weltgemeinschaft würde nicht nur das Leben der Armen entschieden sicherer machen. Es würde zugleich den Sumpf austrocknen, aus dem sich Terrorismen verschiedener Herkunft speisen, indem ihre Vertreter die Ungerechtigkeit für ihre eigenen Ziele vorschieben können. Und mittelfristig würde m. E. auch die Notwendigkeit von Militäreinsätzen in Krisengebieten reduziert werden. Denn durch ein solches verstärktes Engagement der Weltgemeinschaft, der reichen und der armen Länder für mehr Gerechtigkeit und menschliches Wohlergehen für wirklich alle, und damit also für eine Globalisierung in Solidarität, würde plausibel: Die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft orientieren sich an Werten, die dem Gemeinwohl einzelner Länder, aber auch dem Welt-Gemeinwohl dienen.
Leider lässt aber die Umsetzung der Millenniumsentwicklungsziele der UN mehr als zu wünschen übrig. Die Halbzeitbilanz zeigt, dass wir weit hinter den gesteckten Zielen hinterher hinken. Wenn die Umsetzung nicht entschiedener betrieben wird, werden die Frustrationen sich mehren, und viele Menschen, Gruppen und arme Länder das Vertrauen in internationale Institutionen und Organisationen verlieren. Mit leeren, nicht erfüllten Versprechen werden sich Arme, Ausgeschlossene und an den Rand Gedrängte auf Dauer nicht abspeisen lassen. Die Folgen für Militäreinsätze in Krisengebieten sind vorhersehbar.

Globalisierte Weihnacht

Gottes Antwort, die in der Weihnachtsgeschichte offenbar wird, muss uns herausfordern: Nicht Gewalt, Ausgrenzung oder einseitiges Anhäufen von Reichtum und Macht sind seine Sache. Er sagt vielmehr: "Alle Enden der Erde sehen das Heil." Das heißt: Niemand soll fortan benachteiligt am Rand stehen, kein Winkel des Globus soll ausgespart bleiben! So wie der Prophet Jesaja sieht auch Gott Unrecht, Unzulänglichkeiten und Trümmer, die die Menschen aufgehäuft haben. Er aber antwortet mit der Geburt des Freudenboten und Friedenbringers - mit der Schwachheit und Hilf- und Schutzlosigkeit des Kindes von Betlehem. So paradox diese Antwort erscheinen mag, so herausfordernd ist sie bis heute geblieben. Denn auch der Jesusknabe wurde sofort nach seiner Geburt das Opfer politischer Gewalt. Seine Eltern mussten mit ihm vor König Herodes nach Ägypten fliehen. Aber auf diese Weise gibt Gott zu verstehen, dass er auch heute das Los der rund 33 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen kennt, ihr Schicksal teilt und alle, die sich zu ihm bekennen, herausfordert, sich mit diesen Leidenden zu solidarisieren. Wer Weihnachten wo immer auch feiert, wird sich bewusst werden müssen: Gott setzt in dem Kind Jesus einen Neuanfang. Keine Situation und keine Lebensgeschichte, keine politische oder wirtschaftliche Lage ist so festgelegt, als dass nicht Neues, Menschenwürdigeres, Solidarischeres in Angriff genommen werden könnte. Eine gerechtere Welt ist möglich. Die Dinge müssen nicht immer so und gleich weitergehen. Die Suche nach neuen Methoden und nach einem menschenwürdigeren Miteinander ist im jeweiligen Jetzt anzupacken. Das macht Friede auch aus. Es ist ein Prozess, an dem mitzuwirken innerlich erfüllt.

„Stalingrad-Madonna“, gezeichnet vom ev. Pfr. und Arzt Dr. Kurt Reuber, 1942
Friede ist Frucht der Gerechtigkeit

Die deutschen Bischöfe haben in ihrem bereits zitierten, bemerkenswerten Friedenshirtenbrief den Begriff des "gerechten Friedens" eingeführt und stark gemacht. Damit verlagern die Bischöfe die Sichtweise ganz gezielt gegenüber dem lange gebräuchlichen Begriff vom "gerechten Krieg". Der Begriff des "gerechten Friedens" nimmt die biblische Einsicht auf, dass Frieden die Frucht der Gerechtigkeit darstellt. Frieden bewerkstelligen heißt, den Ansprüchen der Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Miteinander wie auch auf internationaler Ebene gerecht zu werden.
Misereor, das bischöfliche Hilfswerk, das vor 50 Jahren gegründet wurde, bemüht sich darum, in ca. 100 Ländern Afrikas, Asiens, Ozeaniens und Lateinamerikas. Hilfe zur Selbsthilfe wird dabei mit ca. 5000 Partnerorganisationen geleistet. Ganz bewusst engagiert sich Misereor auch in Krisen- und Kriegsgebieten. Die Kirche lässt die Betroffenen in schwierigsten Situationen nicht allein, sei es im Sudan und in Darfur, im Kongo oder in Liberia, in Israel und Palästina, im Libanon oder in Afghanistan, im Irak oder in Simbabwe.

In Afghanistan z. B. unterstützt Misereor Projekte seit den 70er Jahren. Lepra- und TBC-Kliniken auf dem Land oder in Kabul wurden durch alle Kriegswirren hindurch aufrechterhalten. Neben anderen wichtigen Maßnahmen unterstützen Misereor-Spenderinnen und -Spender z. B. die orthopädisch-chirurgische Irene-Salimi-Kinderklinik in Kabul. Sie versorgt Kinder mit schweren körperlichen Missbildungen, kriegsbedingten Verletzungen und Verstümmelungen oder nach Unfällen. Dieses Krankenhaus ist für viele betroffene Kinder die einzige Möglichkeit, zu überleben oder einer lebenslangen schweren Behinderung zu entgehen.

Indem Bischof Kamphaus und ich im Juli 2003 diese Kinderklinik in Kabul, Kliniken in abgelegenen Gegenden im Hindukusch und die deutschen Soldaten in Kabul besuchten, wollten wir verdeutlichen, dass Entwicklungszusammenarbeit und der Einsatz von Friedenstruppen zwei Weisen sind, sich für den Frieden einzusetzen. Beides soll dazu dienen, dass in unserer asymmetrisch globalisierten Welt ein wenig mehr von dem Frieden aufscheint, den die Engel in der Heiligen Weihnacht den Hirten auf den Feldern Betlehems verkündet haben.

Prälat Dr. Josef Sayer
Hauptgeschäftsführer misereor