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Geschützt und gebunden durch das Recht

Streitkräfte und Grundgesetz

Prof. Dr. Walther Stützle
Der Verfasser war von 1998 bis 2002 Staatssekretär des Verteidigungsministeriums und ist heute freier Autor, Honorarprofessor der Universität Potsdam sowie Senior Distinguished Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin.
Foto: © BMVg
Das vereinte Deutschland feiert seine Verfassung. Zu recht. Natürlich gibt es auch Grund zu Kritik und Selbstkritik. Doch die Habenseite ist weitaus gewichtiger. Zu ihr gehört die Einordnung der Bundeswehr in das Grundgesetz. Anders als in der Weimarer Republik sind die Streitkräfte in den Verfassungsstaat hineingeboren; die Bundeswehr ist im Grundgesetz groß und erwachsen geworden und hätte es auch dann nicht in Frage zu stellen vermocht, wenn sie es versucht hätte, was nicht passiert ist.

Die nicht interpretationsfähige, lückenlose, grundgesetzlich verankerte Unterordnung unter den Primat der Politik, die ungeteilte Befehls- und Kommando-Gewalt in der Hand des parlamentarisch verantwortlichen Verteidigungsministers, die ausnahmslose Kontrolle durch das Parlament einschließlich des Rechts des Verteidigungsausschusses, sich als Untersuchungsausschuss zu konstituieren, die Wächterfunktion des Wehrbeauftragten – nach skandinavischem Vorbild –, die Wehrpflicht als Bindeglied zur und als Frühwarnsystem für die Gesellschaft und schließlich eine überwiegend wache Presse haben der Bundeswehr geholfen, von der Verfassungsspur nicht abzuweichen.

Das Konzept der Inneren Führung, einerseits, und der atlantische Rahmen, andererseits, haben die Bundeswehr zur doppelt integrierten Armee verfasst, zugleich zweifach geschützt: vor verfassungsfeindlichem Missbrauch nach innen und auch nach außen. Gemessen an den deutschen Erfahrungen und an den Erfahrungen unserer Nachbarn mit Deutschland ist das wahrlich ein Paradigmenwechsel, eine grundstürzende Zäsur in der europäischen Geschichte.

Kurz: Im Verhältnis zwischen Staat und Soldat gibt es keinen rechtsfreien Raum. Beide sind aufeinander verpflichtet und zugleich gegen Missbrauch voreinander geschützt.

Wiederbewaffnung war die Eintrittskarte der damaligen Bundesrepublik in das Atlantische Bündnis; und das Bündnis garantierte die vor allem von Amerika geschützte Rückkehr zunächst nur der Westdeutschen in den Kreis der geachteten Staaten. Den seinerzeit bitter ausgetragenen Streit, ob Westintegration die deutsche Einheit unmöglich mache, hat die Geschichte 1989/90 beantwortet. Zur außenpolitischen Kontinuität der Bundesrepublik gehört, dass die Ostpolitik von Willy Brandt auf den Fundamenten der Westintegration von Konrad Adenauer gründete; beiden diente die Bundeswehr nach Größe und Struktur als glaubwürdiges Unterpfand für Bündnistreue, und als Ausweis der bundesdeutschen Verfassungszusage, mehr als Verteidigung nicht im Sinn haben zu dürfen. Ungeachtet permanenter Umstrukturierungen ist die Bundeswehr der politischen Führung bei Westintegration und Entspannungspolitik nichts schuldig geblieben.

Seit dem Ende der europäischen Teilung und der erlangten deutschen Einheit findet sich die Bundeswehr erstmals in der Rolle von Streitkräften im Einsatz. Heute dienen mehr als 7.000 Soldatinnen und Soldaten in internationalen Einsätzen. Mehr als 90.000 Bundeswehrangehörige haben Afghanistan-Erfahrung. Die Einsätze sind riskant und kosten immer wieder das Leben zumal junger Menschen. Für die Politik ergibt sich daraus eine ganz besondere Pflicht: Die politischen Ziele des Einsatzes unmissverständlich klar zu machen und die nötigen Mittel – Ausbildung und Ausrüstung – im militärisch notwendigen Umfang zur Verfügung zu stellen.

Hier ist das Parlament in der Pflicht gegenüber den Soldaten. Der Anspruch, mit der Bundeswehr ein Parlamentsheer zu unterhalten, ist hehr, muss aber auch eingelöst werden. ‚Parlamentsheer’ meint, die politisch formulierten Ziele der Regierung zu hinterfragen und deren Erreichbarkeit zu überwachen; im Fall Afghanistan steht das noch immer aus. ‚Parlamentsheer’ meint nicht, operative Führung der Auslandseinsätze durch den Bundestag. Der Trend der Mandate für Auslandseinsätze aber weist in diese Richtung. Die Diskussion und Entscheidung über „Tornado“-Einsätze in Afghanistan ist ein prominentes und peinliches Beispiel. Sich selbst und der Bundeswehr sollte das Parlament zum 60. Geburtstag die Abkehr von diesem falschen Kurs schenken – und zwar bevor jemand die populistisch verfängliche Frage stellt, ob die Bundeswehr ohne den Primat der Politik nicht doch besser führe.

Prof. Dr. Walther Stützle