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Bundeswehr braucht Staatsbürger in Uniform, die fähig und bereit sind zu kämpfen

Winfried Nachtwei war 1994–2009 für Bündnis 90 / Die Grünen Mitglied des Bundestags, seit 2002 sicherheitspolitischer Sprecher, außerdem u. a. Mitglied der NATO-Parlamentarierversammlung.
Foto: privat
Kompass: Der Deutsche Bundestag stimmte in den zurückliegenden Jahren auf Antrag der Bundesregierung einem Einsatz deutscher Streitkräfte als äußerstes Mittel bislang immer mit Mehrheit zu. Äußerstes Mittel meint nicht immer letztes Mittel, sondern bedeutet Anwendung militärischer Gewalt, meint im Kern kämpfen, töten und getötet werden. Als ehemaliger, langjähriger Parlamentarier haben Sie oftmals zugestimmt. Gegen Ende der letzten Legislaturperiode haben Sie sich – mit Blick auf den Einsatz in Afghanistan – der Stimme enthalten. Braucht Deutschland kämpfende Staatsbürger in Uniform? Für welche Ziele?

Winfried Nachtwei: Seit 1994 war ich an allen Einsatzentscheidungen des Bundestages beteiligt. Dabei hatten meine Empfehlungen wesentlichen Einfluss auf das Abstimmungsverhalten der Grünen Fraktion. Meine zwei Stimmenthaltungen beim Afghanistaneinsatz waren meiner wachsenden Unzufriedenheit mit der Halbherzigkeit deutscher Afghanistanpolitik geschuldet, die den Sinn des notwendigen Bundeswehr-ISAF-Einsatzes untergräbt.

Damit die Bundeswehr ihre von Grundgesetz und Politik gegebenen Aufträge durchführen kann, braucht sie grundsätzlich Staatsbürger in Uniform, die fähig und bereit sind zu kämpfen. In den Jahrzehnten des Ost-West-Konfliktes war das Ziel Abschreckung, nicht kämpfen zu müssen. Das hat sich mit den Auslandseinsätzen verschoben, wo gegebenenfalls gekämpft werden muss zur Selbstverteidigung und zur Durchsetzung des Auftrags, wo das Anforderungsprofil aber weit darüber hinausgeht. Über viele Jahre trugen die Stabilisierungseinsätze erfolgreich zur Eindämmung großer Gewalt bei. „Robust“ mandatiert und ausgerüstet waren es potenzielle, nicht reale Kampfeinsätze. Das hat sich mit der Verschärfung der Konfliktlage in der Provinz Kunduz seit 2008 und vor allem seit April dieses Jahres grundlegend geändert.

Erstmalig sind seitdem Bundeswehrsoldaten im Kampf gefallen. Erstmalig töteten und verwundeten Bundeswehrsoldaten etliche Gegner. Um gegen den Terror- und Guerillakrieg von Taliban und Verbündeten zu bestehen und die Kontrolle für die afghanischen Staatsorgane zurückzugewinnen, braucht es jetzt erstmalig in diesem Umfang auch kämpfende Staatsbürger in Uniform. Sie wären aber auf verlorenem Posten, wenn sie nicht von einer Politik der politisch-polizeilichen und sozialen Aufstandseindämmung und Stabilisierung flankiert würden.

Kompass: In den zurückliegenden parlamentarischen Debatten um den Einsatz deutscher Streitkräfte außerhalb der bündnisbezogenen Landesverteidigung finden wir in den Bundestagsprotokollen darüber eher selten Begriffe wie kämpfen, töten, gefallen, verwundet. Erst seit dem 20. Oktober 2008 spricht der Bundesminister der Verteidigung von „gefallenen Soldaten“ und fügt hinzu, Deutschland befände sich nicht im Krieg. „Gefallen – aber nicht im Krieg“. Geht das auf?

Winfried Nachtwei: Ja, das letztere geht. Gefallen ist ein Soldat, der im Einsatz durch gegnerische Einwirkung getötet wurde. Aber längst nicht jeder Einsatz heutzutage ist ein Kriegseinsatz. Beispiel die UN - geführten Missionen UNIFIL/Libanon und MONUC/Kongo, die in (Nach-) Kriegsgebieten Frieden sichern sollen, selbst keine Kriegseinsätze sind (eher Antikriegseinsätze) und etliche Opfer zu beklagen haben. Sind diese UN-Soldaten etwa nicht „gefallen“? Der erste durch gegnerische Waffenwirkung gefallene Bundeswehrsoldat war Oberstabsarzt Dieter Eising, am 8. Oktober 2001 im Rahmen der UNOMIG-Beobachtermission in Georgien.

Die Ministeraussage aber beschönigt die Einsatzwirklichkeit: Mit den vielen Gefechten in der Provinz Kunduz ist Bundeswehr dort im (Klein-)Krieg. Das ändert aber nichts an dem strategischen Auftrag von ISAF einer Stabilisierungs- und Unterstützungsmission mit einem erheblichen Anteil Aufstandsbekämpfung.

Foto: © Bundeswehr / Schöne
Kompass: Nach Nationalsozialismus und Krieg wurde die Bundeswehr als Staatsbürger-Armee mit einem geradezu zivilen Selbstbild gegründet. Die Grundsätze der Inneren Führung, ein Wehrbeauftragter als Hilfsorgan des Parlaments und spezialgesetzliche Petitionsinstanz für Soldatinnen und Soldaten – hält das heute noch Stand? Wohin entwickeln sich deutsche Streitkräfte? Worin wird ihre Identität bestehen? Haben Sie dabei Sorgen? Sehen Sie Gefahren?

Winfried Nachtwei: Innere Führung ist angesichts komplexer Einsätze wichtiger denn je. Mit den jüngsten Kampfeinsätzen hunderter Bundeswehrsoldaten steht Innere Führung jetzt in der Extrem-Bewährungsprobe. Immer wieder habe ich erfahren, wie professionell und klug Bundeswehr im Einsatz agierte und hohen Respekt bei einheimischer Bevölkerung und Verbündeten fand.

Zugleich sehe ich besorgniserregende Entwicklungen: Der Politik ist viel zu wenig bewusst, dass Innere Führung bei ihr anfangen muss, bei überzeugender, kompetenter und verantwortungsbewusster Führung. Vor allem durch den Mangel an Wahrhaftigkeit und strategischer Klarheit hat Politik viel Vertrauen bei den Soldatinnen und Soldaten verloren. Das erschwert Gehorsam aus Überzeugung. Ich höre, dass mit steigendem Dienstgrad die Bereitschaft zum offenen und kritischen Wort abnehme, dass die Kluft wachse zwischen persönlichen und nach außen vertretenen Positionen. Und unübersehbar ist das Auseinanderdriften der Welten von Alltag hierzulande und Einsatzwirklichkeiten – bis zum „Krieg im Frieden“. Die Identität der deutschen Streitkräfte muss eindeutig bestehen in ihrer Verpflichtung auf deutsche und europäische Sicherheit und kollektive Sicherheit im Rahmen der Vereinten Nationen. Sie sind ein Mittel der Kriegsverhütung und Gewalteindämmung und nicht ein Mittel zur militärischen Durchsetzung von Partikularinteressen. Insofern unterscheiden sie sich grundlegend von früheren deutschen Streitkräften.

Insgesamt habe ich weniger Sorgen hinsichtlich der Entwicklung der Streitkräfte als hinsichtlich der Sicherheitspolitik insgesamt. Hier beunruhigt mich am meisten die Langsamkeit des politischen Lernens, unser regelrechtes Zurückbleiben hinter den dynamischen sicherheitspolitischen Entwicklungen. Wenn es so träge mit der Entwicklung ziviler Friedensfähigkeiten weitergeht, dann konterkariert das die Erfolgsaussichten von Bundeswehreinsätzen.

Das Interview führte Josef König.