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Ein Handbuch, kritisch gelesen

„Friedensethik im Einsatz. Ein Handbuch der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr“, erschienen im März 2009, Gütersloher Verlagshaus, 446 Seiten
Die evangelischen, aber auch nicht wenige katholische Militärseelsorger haben dem „Handbuch der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr“ mit hohen Erwartungen entgegen gesehen, zumal man in der Vergangenheit bei Veröffentlichungen dieser Art wie z. B. bei „De Officio“ viele konfessionsübergreifende Anregungen erhalten hat.

An dem vorliegenden Handbuch hat immerhin eine 15-köpfige Gemeinschaft kompetenter und erfahrener Autoren unter Federführung von Dr. Hartwig von Schubert gearbeitet. Da erwartet man doch tatsächlich ein wegweisendes Werk!

Und nach dem ersten Durchblättern lässt sich sagen: Das Buch kann als gewichtiger Beitrag zur Friedensethik bewertet werden!

Nach gründlicher, kritischer Durchsicht ist jedoch festzustellen: Zum Handbuch für berufsethische Fortbildung in der Bundeswehr – vor dem Hintergrund der neuen Dienstvorschrift ZDv 10/4 „Lebenskundlicher Unterricht (LKU)“ vom Januar 2009 – eignet sich das voluminöse Opus kaum, obwohl es „Material“ für den LKU in Fülle bietet und in den umfangreichen historisch-philosophisch-theologischen Ausführungen der Autoren weitgehend stringent der Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland folgt.

Der Denkschrift geht es um Förderung des Prozesses „der Arbeit für den Frieden“. Sie geht aber davon aus, dass mit Frieden abnehmende Gewalt und zunehmende Gerechtigkeit gemeint sind. Sie vermeidet die Begriffe „Krieg“ oder „robuster Einsatz“, sie blendet damit die Tatsächlichkeit des Krieges weitgehend aus.

Leben in dieser Welt

Wir leben aber in einer Welt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Anzahl und Vielfalt gewalttätiger Phänomene global bedrohlich anwachsen, so dass militärische Einsätze nötig sind, um Frieden zu bewahren und auf Dauer zu sichern.
Die erste Hälfte des hier besprochenen Handbuches ist der umfangreichen Darstellung philosophischer Grundlagen sowie der Entwicklung der abendländischen, auch christlich geprägten Ethik gewidmet.
Sehr umfangreich, oft mit gelehrig wissenschaftlicher Akribie werden einige Phasen ihrer Entwicklung beschrieben. Andere Phasen wiederum werden nur flüchtig gestreift oder sogar ganz übergangen bzw. in Anmerkungen verlegt.

Überreiche Materialfülle, jedoch etliche Versäumnisse

Es wird versäumt, Zusammenhänge, Entwicklungsstränge herauszuarbeiten. So fehlen z. B. die Stränge, die thomistisch-scholastische Lehren mit der reformatorischen „Freiheit des Christenmenschen“, aber auch mit rationalistischer Aufklärung und mit dem Konzept Kants vom „Ewigen Frieden“ verbinden.
Völlig fehlen Darlegungen oder Hinweise auf neueste Erkenntnisse bzw. Fragestellungen in der Friedensforschungsdisziplin der Politischen Wissenschaft, dem sich zunehmend das Institut für Theologie und Frieden in Hamburg widmet.
Summa summarum: Darstellung und Auslegung abendländischer Ethik erscheinen mir als zu grobmaschig gestrickt.

Die Sache mit dem Gewissen

Kapitel 1.3.4: Gewissensfreiheit – „ein Grundrecht, das als solches beschränkt werden kann, zum Beispiel, wenn es die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte behindern könnte“.

Ich vermisse da einen Aufschrei evangelischer Autoren.

Gewissensfreiheit unter den Bedingungen von Befehl und Gehorsam, ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts 2005 zur Gewissensfreiheit des Soldaten und die katholische Lehre von der Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen. Wird das Pauluswort (Röm 12,1) nicht mehr geachtet, dass es keinen Zwang geben könne, der den Christen nötigt etwas zu tun, was er nicht für recht und notwendig, für „vernünftig“ hält?

Was diesem Handbuch wirklich fehlt, ist ein ausführlicher Exkurs über Gewissen, Gewissensfreiheit und vor allem Gewissensbildung. Es werden zwar über viele Seiten hin auf alle denkbaren Einsätze bezogene Reglements aufgeführt, aber für die für eine hilfreiche Gewissensbildung nötigen Ausführungen bleibt dann kein Platz.

Die Fokussierung des Handbuchs auf militärische Einsätze – insbesondere im Ausland – schmälert den Wert des Buchs für die Begleitung der Soldaten zu Hause.

Ein Handbuch 2009 könnte auch ein Mindestmaß aktuell gelebter Ökumene, gerade im Auslandseinsatz widerspiegeln: Fehlanzeige.

Eine erschreckende Einstellung der Autoren zum Thema Sexualität: Sie negieren bei diesem Thema geradezu ethische Dimensionen, die Bedeutung von Gewissen und Verantwortung für das Gelingen der Partnerschaft zwischen Mann und Frau, für die Entscheidung Familie zu gründen, Vater und Mutter zu werden.

Die guten Seiten des Buches

Die für Militärpfarrer und den zunehmend fordernden LKU hilfreichsten Seiten des Buches, die Seiten 348 bis 363, beziehen sich auf die Vermittlung ethischer Bildung. Erst hier bekommt es so richtig Handbuch-Charakter.

Hervorzuheben sind dabei die Fallstudien zur Methode ethischer Urteilsbildung. Die Anregungen – besonders für Newcomer in der Militärseelsorge – wären noch hilfreicher mit bewährten Abbildungen, Tafelbildern und Folien.

Warum kommt gerade dieses Kapitel so spät?

Warum fügte man die umfangreichen und für jeden Leser mühsamen vorausgehenden Seiten diesem zentralen Kapitel nicht quasi als Appendix an? Das hätte aus diesem Buch das gemacht, was es jetzt nicht ist: Ein für die Praxis brauchbares und wirklich richtiges Handbuch, das auch militärische Vorgesetzte gerne einmal zur Hand nehmen, weil sie sich Anregungen für den politisch-ethischen Unterricht erhoffen dürfen. Zu empfehlen ist, dieses letzte Kapitel zuerst zu lesen!

Ein Sach- und Personenregister wäre unabdingbar, um schnell und gezielt Begriffe nachzulesen. Gerade das Fehlen eines solchen Registers im vorliegenden „Handbuch“ ist ein schlimmes Manko.

Dr. Anton Tischinger, Dekan