Internationaler Soldatengottesdienst zum Weltfriedenstag in Köln, 17. Januar 2002"Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung"Predigt von Erzbischof Joachim Kardinal MeisnerKöln, 17. Januar 2002
Liebe Schwestern und Brüder!
1. Unsere Sorge, der Mensch.
Der Mensch ist zum Sorgenkind Nr. 1 geworden, weil er sich von Gott, seinem Ursprung, abgekoppelt hat, bewusst oder unbewusst. Darum sind auch seine "Beziehungen" zum anderen Menschen gestört. Denn nur wer Gott kennt, der kennt auch den Menschen. Die Beziehung zu Gott hat immer Konsequenzen für die Beziehungen der Menschen untereinander. Die Sünde ist keine theologische Konstruktion, sondern verhängnisvolle Realität. Sie brachte die Spaltung in die Welt und trieb die Menschen an, die Spuren Gottes auszuwischen. Wir leben darum in einer transzendentalen Wüste. Das hat uns das vergangene Jahr mit aller Schärfe gezeigt. Der Friede in der Welt ist trotz des Verschwindens von Stacheldraht und Mauer und trotz der Entschärfung des Ost-West-Konfliktes aufs Höchste bedroht. Da trifft die Botschaft: "Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung" des Papstes zum Weltfriedenstag 2002 wirklich ins Schwarze.
Die Urversuchung des Menschen, sich an Gottes Platz zu stellen, selbst zu entscheiden, was gut und böse, richtig und falsch ist, lebt auch in uns Gläubigen. Gibt man ihr nach, wird sie zur Sünde und wirkt verheerend auf den Sünder selbst und auf seine Umwelt. Denn jede Sünde ist gelebte Sünde, ihr zerstörerisches Potential wächst mit der Macht, die der Mensch sich mit der fortschreitenden Zivilisation erwirbt. Es gibt kaum einen anschaulicheren Beleg dafür als die Terroranschläge in New York und Washington am 11. September 2001.
Unsere Umwelt ist nicht so sehr vom aggressiven Anti zu Gott geprägt, als vielmehr vom gleichgültigen Ohne-Gott. Hier liegt auch die letzte Ursache dafür, dass die meisten Menschen - wohl ungewollt - gleichsam Emigranten aus ihrer naturgegebenen ewigen Heimat sind, d.h. aus ihrer Rückbindung an Gott und sein Reich. Sie empfangen nämlich von dort keine Werte mehr, für die es sich zu leben lohnt.
2. Ohne Umkehr keine Hinkehr zu Gott und den Menschen
Ohne Bekehrung und ohne inneren Umbruch unseres Denkens und Seins ist keine wirkliche Hinkehr zu Gott und zueinander möglich. Wo dem Menschen jeder Weg nach innen, jede Reinigung seiner selbst erspart bleibt und statt dessen nur sein Neid und seine Begehrlichkeit angeheizt werden, wird die Barbarei zur Methode. Und ein Blick in die Gesellschaft zeigt, dass die Barbarisierung nicht der Weg zur Humanisierung sein kann. Damit zeigt sich etwas Unerwartetes: die Bewegung nach innen und diejenige zueinander hin müssen - recht betrachtet - einander nicht widersprechen, sondern erfordern sich sogar und bedingen sich gegenseitig. Denn nur wenn sich die Menschen im Innersten berühren können, können sie auch wirklich im Äußeren eins werden. Nur was inwendig ist, kann auch auswendig werden. Wenn aber Menschen im Inneren füreinander undurchdringlich sind, dann werden die äußeren Annäherungen nur Äußerungen von Aggressionspotential sein. Zwei Steine, die beieinander liegen, behindern und bedrohen sich.
Die Heilige Schrift hat das im Bild vom Turmbau zu Babel dargestellt: Die ausgefeilteste Vereinigung im technischen Können schlägt um in die tiefste Unfähigkeit menschlicher Kommunikation. Das ist auch von der inneren Struktur des Vorganges der Sünde her völlig logisch: Wo jeder Mensch selbst ein Gott werden will, d.h. so mündig und frei, so einzig und allein sich selbst bestimmend, dass er sich niemandem mehr verdankt, da wird jeder andere Mitmensch für ihn zu einem Antigott, zu einem Konkurrenten und zu einem Widersacher. Und Kommunikation miteinander wird zum Widerspruch mit sich selbst. Das sollten wir beachten, wenn wir sagen: "Die Kirche ist die Kommunikation zwischen Gott und Mensch und der Menschen untereinander." Und darum bedeutet Sünde Kommunikationsbruch und damit eine Art Selbst-Exkommunikation. Der Sünder wird zu einer Robinson-Existenz, er lebt nur noch für sich selbst, dreht sich nur um sich selbst, wird dabei selbst verdreht und durchgedreht und zieht seine Mitmenschen in diesen unseligen Dreh mit hinein.
3. Unsere Sorge, der Mensch, aber unser Heil, der Herr.
Die Lösung unserer menschlichen Probleme liegt in Gott. Das klingt wie eine nichtssagende Allerweltsweisheit, aber darin verbirgt sich die ganze Faszination Gottes. Gott ist Gabe. Ja, er lebt von der Gabe wie ein Bettler, nur der Bettler lebt von der Gabe, die er empfängt, Gott hingegen lebt von der Gabe, die er gibt, denn er ist Vater. Das Höchste, was er zu vergeben hat, ist die "Vergabung", d.h. die "Vergebung". Und die höchste Gnade, die er zu verschenken vermag, ist die Begnadigung. Wo Menschen Gott diese Gabe nicht mehr abnehmen, hört er auf, für sie Gott, d.h. Vater zu sein. Wenn Kinder die Annahme der Geschenke ihres Vaters verweigern, dann hört er für sie auf, Vater zu sein. Unsere Tragik liegt darin, Gott nicht mehr die Vergebung und die Begnadigung abzunehmen. Dann aber bleibt alles beim Alten, dann verändert sich nichts zum Positiven. In der Vergebung aber liegt die Chance zu einer Zivilisation der Liebe. Wenn die Sünde des Menschen ihn von Gott und von den anderen Menschen trennt, dann verbindet die Vergebung Gottes den Menschen mit Gott und die Menschen untereinander. Hier liegt Sendung und Wesen der Kirche.
Die Kirchenkonstitution des 2. Vatikanischen Konzil sagt das in dem bekannten Satz: "Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, d.h. Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott, wie für die Einheit der ganzen Menschheit." (1.1). Die Vergebung Gottes gliedert den Einzelnen einem Beziehungsgeflecht ein, der erlösten Menschheit. Für diesen Eingliederungsprozess gilt die Formel: "Werde wieder Sohn und Tochter Gottes, indem du Bruder und Schwester der anderen Söhne und Töchter Gottes wirst" - oder: "Werde wieder Bruder und Schwester der anderen Mitmenschen, indem du Sohn und Tochter Gottes wirst." Wir werden miteinander und mit Gott versöhnt, darin steckt eben rein sprachlich schon die Wirklichkeit: Wir werden Söhne und Töchter und damit Brüder und Schwestern. Die Kirche ist daher "communio", in der sich diese Einheit vollzieht, die Frucht der Vergebung Gottes ist. In dieser Geschwisterlichkeit zeigt sich, dass der andere neben mir nicht als Konkurrent oder als Anti-Interessent von mir empfunden wird, sondern als Bruder, als Schwester, als Mitmensch, und damit werde ich den Mitmenschen letztlich gerecht.
Hier achtet der eine auf den anderen, dass ihm das zukommt, was ihm als Schwester und Bruder gebürt. Damit werde ich dem anderen gerecht und daraus erwächst: "Gerechtigkeit". Die Vergebung ist tatsächlich die Quelle der Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit schenkt uns letztlich den Frieden. Die Menschwerdung Gottes ist die neue Synthese, die von Gott selbst vollzogen ist: Sie überschreitet notwendigerweise die Grenzen des Alten Bundes, dessen volles Erbe sie aufnimmt und vollendet. Christus ist nun das Sakrament Gottes, indem in ihm Gott selbst Mensch geworden ist. Er wird berührbar und assimiliert uns sich an. Er macht sich in der Vergebung ganz konform mit uns, wenn wir uns von seinem österlichen Geist anhauchen lassen, wie es der Herr am Abend des ersten Ostertages getan hat mit den Worten: "Friede sei mit euch! ... Empfangt den Heiligen Geist! Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben..." (Joh 20,21-23). Wer Gott sieht, der muss sterben, so lautet ein Prophetenwort. Ja, der muss sich selbst, seinem Egoismus, seinen Sünden absterben, um in der Gnade der Vergebung aufzuerstehen. Dazu lädt uns der diesjährige Weltfriedenstag ein. Die Vergebung schafft Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit aber den Frieden. Amen.
+ Joachim Kardinal Meisner
Erzbischof von Köln
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