"Im Schützengraben gibt es keine Atheisten"

Was bedeutet es für einen Menschen, zu töten? Interview mit Militärdekan Simon im Rheinischen Merkur, Nr. 13, 27.03.2003

Militärdekan Joachim Simon (2.v.r.) im Gespräch mit Soldaten bei einem Auslandseinsatz
RHEINISCHER MERKUR: Im Irak findet nicht nur ein Luftkrieg statt. Es kommt zu Bodenkämpfen Mann gegen Mann. Spielt dies in der psychologischen Betreuung der Soldaten eine Rolle?

JOACHIM SIMON: Sicher. Ich will psychische Belastungen der Luftwaffensoldaten nicht schönreden. Aber es ist etwas anderes, ob man aus großer Höhe Bomben abwirft oder Mann gegen Mann kämpft. Dann erkennt der Soldat im Gegenüber den Menschen. Die Bundeswehr hat seit ihrer Gründung Gott sei Dank kaum Gefechtseinsätze erleben müssen. Aber es gab sie, zum Beispiel beim Einmarsch der Nato-Truppen in das Kosovo. Damals wurden deutsche Soldaten in Prizren beschossen.

Unter welchem psychisch-seelischen Druck stehen die Soldaten bei ihrem Einsatz?

Die schlimmste Angst dürfte jetzt sein, dass sich ein Chemie- oder Giftgasangriff ereignet. Die Soldaten fürchten um ihre körperliche Unversehrtheit: Werde ich im Wüstensand sterben müssen? Wann wird dieser Albtraum zu Ende sein? Kehre ich jemals nach Hause zurück? Das sind sehr existenzielle Fragen. Aber auch Angst vor Versagen gibt es: Werde ich meine Kameraden im Stich lassen? Niemand weiß vorher, wie er im Kriegsfall reagiert.

Aber es handelt sich um Berufssoldaten, die mit der Möglichkeit des Krieges rechnen müssen.

Richtig. Es handelt sich nicht um Wehrpflichtige. Aber die 250 000 Mann, die jetzt am Golf kämpfen, sind keinesfalls alle abgebrühte Profis. Selbst wenn ein Soldat einsatzerfahren ist, ist es ein Riesenunterschied, plötzlich in einem Kampfeinsatz zu stehen. Da gibt es keine Routine.

Ist die Angst größer, verwundet zu werden oder selbst zu töten?

Das ist individuell sehr unterschiedlich. Wer sich entscheidet, US-Soldat zu werden, hat ein anderes Selbstverständnis als ein Soldat der Bundeswehr. Er geht dorthin, wo amerikanische Interessen es erfordern. Und er muss damit rechnen, in einem Angriffskrieg auch zu töten. Wichtig ist für Soldaten immer, zumindest eine subjektive moralische Rechtfertigung für ihr Tun zu haben. Nur wenige kommen ohne diese Überzeugung aus.

Was bedeutet es für einen Menschen, zu töten?

Es ist das Worst case-Szenario. Schon wer tragischerweise mit dem Auto ein Kind überfährt, trägt ja meist ein ganzes Leben daran. Mit solchen Schuldgefühlen weiterzuleben gelingt nicht jedem. Ich erinnere aber an die biblische Kainserzählung: Der Brudermörder ist nicht der Strafe durch die Gesellschaft verfallen. Er darf mit dem Kainsmal weiterleben. Es ist letztlich ein Schutz für Kain. Gott wird über ihn urteilen.

Gibt es in einer Gefechtssituation überhaupt noch Moral?

Das ist die große Frage. Spielt dann nur das eigene Leben eine Rolle? Geht es allein darum, wer schneller schießt? Die militärischen Führer müssen die ethischen Grundlagen ihres Berufs kennen. Sie müssen in Gefechtssituationen ja auch entscheiden, wie zu handeln ist. Oft haben Soldaten dann nur die Wahl zwischen zwei Übeln. Katholische Auffassung war immer: Wer nur die Wahl hat zwischen zwei Übeln und sich für das kleinere entscheidet, hat nicht gesündigt. Wenn ein Soldat sieht, dass von einer irakischen Stellung Granaten gegen die eigenen Stellungen abgefeuert werden sollen und er zerstört die Stellung mit einem gezielten Bombenabwurf, handelt er nicht unmoralisch.

Die Feier des Gottesdienstes im Auslandseinsatz
In den letzten Tagen gab es Bilder aus der Golfregion von Soldaten, die sich taufen lassen. Verstärkt sich die religiöse Bindung bei Kriegseinsätzen?

Das ist ein bekanntes Phänomen. Während militärischer Einsätze kommt es immer wieder vor, dass Soldaten um die Taufe bitten. Aus ihrem Alltag herausgerissen und in eine Krisenregion katapultiert, fragen sie nach Werten, ihrem persönlichen Fundament: Wozu mache ich das eigentlich? Warum bin ich Soldat? Im Schützengraben, so ein Psychologe, gibt es keine Atheisten. Daran ist ein Körnchen Wahrheit. Der letzte Strohhalm Hoffnung ist besser als gar keiner.

Wie gehen die Soldaten damit um, dass Töten und das christliche Gebot der Feindesliebe in Gegensatz zueinander stehen?

Tun sie das? Wenn ich den Gegner als Mensch und Bruder erkenne, müsste ich natürlich daraus ableiten, dass ich ihn nicht mehr töten darf. Aber das hebt die grundsätzliche Schwierigkeit nicht auf. Denn dieser Bruder ist möglicherweise im Begriff, selbst zu töten. Damit er das nicht tut, muss ich ihm zuvorkommen. Das sind sehr schwere menschliche Belastungen. Soldat- und Christsein ist letztlich nur dann vereinbar, wenn sich der Soldat als Verteidiger betrachtet. Einen Präventiv- beziehungsweise Angriffskrieg zu führen ist christlicherseits unvorstellbar.

Wie unterscheidet sich die US-Militärseelsorge von der deutschen?

Die amerikanischen Militärgeistlichen haben einen militärischen Rang. Sie sind Soldaten und spielen im System von Befehl und Gehorsam mit. Der Kommandeur kann dem Pfarrer Befehle erteilen. Ich halte das für sehr problematisch. In Deutschland bleibt der Pfarrer immer Zivilist.

Wie viele Geistliche sind jetzt im Irak?

Genaue Zahlen kenne ich nicht. Es sind bestimmt über hundert im Aufmarschgebiet.

Stehen die Geistlichen in vorderster Front? Sind sie bewaffnet?

Nach der Genfer Konvention dürfen Geistliche wie auch Sanitäter bewaffnet sein. Sie haben allerdings nur das Recht, Waffen zu tragen, um völkerrechtswidrige Angriffe auf Schutzbefohlene abzuwenden. Die Geistlichen sind gewöhnlich bei Lazaretteinrichtungen stationiert dort also, wo mit Verwundeten zu rechnen ist. Sie stehen für Gespräche, Krankenkommunionen, die Sterbesakramente und die Betreuung des Sanitätspersonals zur Verfügung.

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an Ihre Amtsbrüder im Irak denken?

Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken. Ich kann die Grundvoraussetzungen dieses Irak-Krieges nicht mittragen. Wären es meine Soldaten, würde ich sie trotzdem nicht allein lassen. Ich würde versuchen, dem Einzelnen in seiner Not beizustehen. Wie, weiß ich nicht.

(Militärdekan Joachim Simon begleitete deutsche Soldaten im Kosovo und in Afghanistan. Das Gespräch führte M. Gierth.)

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