Im Zentrum der christlichen BotschaftDie erste Enzyklika "Gott ist die Liebe" von Papst Benedikt XVI. | | Pressekonferenz des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz,
Karl Kardinal Lehmann, am 25. Januar 2006, 13 Uhr, in Mainz
zur Veröffentlichung von „Gott ist die Liebe“
Seit mehr als einem halben Jahrhundert wartet man nach dem Amtsantritt eines neuen Papstes gespannt auf die erste Enzyklika. Bei nicht wenigen Päpsten ist, wie oft nachher deutlicher wird, das erste Weltrundschreiben vielleicht nicht gerade eine Programmvorschau, aber eben doch ein bedeutungsvoller Auftakt für das jeweilige Pontifikat gewesen. Dies gilt auf jeden Fall für die Päpste Johannes XXIII., Paul VI. und Johannes Paul II. So war die Spannung auch groß, bis Papst Benedikt XVI. nun am 25. Januar 2006, also heute, seine erste Enzyklika veröffentlicht.
Der Papst hat am 25. Dezember 2005, also genau einen Monat vorher, an Weihnachten, die Enzyklika „Deus caritas est“ unterzeichnet. Ihr Inhalt hängt eng mit der Botschaft von Weihnachten zusammen. Die Wahl des 25. Januar hat eine vielfache Bedeutung. Zunächst ist der 25. Januar zeitlich nahe dem Abschluss der schon seit vielen Jahren in den christlichen Kirchen begangenen „Gebetswoche für die Einheit der Christen“ (15. bis 22. Januar). Der Papst begibt sich in die Basilika des hl. Paulus außerhalb der Mauern, um – wie er selbst sagt – mit den orthodoxen und reformatorischen Christen zu beten im Sinne eines Dankes für die bisher gelungenen Schritte und zugleich den Herrn zu bitten, dass er uns auch in Zukunft noch mehr der Einheit entgegenführt. Dabei darf man nicht vergessen, dass an diesem Ort und an diesem Tag Johannes XXIII., nämlich am 25. Januar 1959, die Einberufung eines neuen Ökumenischen Konzils verkündete. Schließlich feiert die Kirche am heutigen Tag das Fest „Bekehrung des Apostels Paulus“. Dies erklärt den gewählten Ort, ist aber auch für die ökumenische Dimension der Gebetswoche und auch des früheren Konzilsaufrufes sowie der Enzyklika „Gott ist die Liebe“ aufschlussreich: Die Erneuerung der Kirche und der ökumenische Weg der Einheit brauchen zuerst und grundlegend Umkehr und Bekehrung.
Es ist also in vieler Hinsicht ein bedeutungsvoller Tag, wenn der Papst ganz bewusst heute seine erste Enzyklika veröffentlicht. Schon bei der Generalaudienz am 18. Januar, also vor einer Woche, hat er auf den ökumenischen Charakter dieses Schreibens hingewiesen: „Das Thema ist nicht unmittelbar ökumenisch, aber der Rahmen und der Hintergrund sind ökumenisch, weil Gott und unsere Liebe die Bedingung der Einheit der Christen sind. Sie sind auch die Bedingung des Friedens in der Welt.“
Ein weiterer Hinweis für das Verständnis der ersten Enzyklika ist die Pressekonferenz heute um 12 Uhr in Rom. Der Papst hat drei Mitarbeiter zur Vorstellung bestimmt: Kardinal R. R. Martino, Präsident des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden (Iustitia et Pax), Erzbischof W. J. Levada, Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, und den deutschen Erzbischof P. J. Cordes, Präsident des Päpstlichen Rates „Cor Unum“, also gewissermaßen die drei wichtigen Dimensionen der Enzyklika: den grundlegenden Teil I mit der Darlegung des Wesens der Liebe (Nr. 2-18) und den zweiten Teil, der das Wirken der Liebe entfaltet, und zwar besonders im Sinne der Gerechtigkeit (Nr. 26-28), und der Caritas (Nr. 28-39), wobei der Vollzug der Liebe im Blick auf den Einzelnen, aber auch auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens angesprochen wird (vgl. bes. Nr. 32ff.). Die drei leitenden Mitarbeiter der Kurie, die das Dokument offiziell vorstellen, vertreten also die Grundaussagen der Enzyklika.
Damit ist auch schon der Aufbau der Enzyklika angesprochen. Der Titel einer Enzyklika ist immer identisch mit den ersten Worten des Textes, der in diesem Fall dem ersten Johannesbrief entnommen ist (4,16): „Gott ist die Liebe“. Nach der knappen Einführung (Nr. 1) besteht die Enzyklika aus zwei großen, gleichgewichtigen und auch im Umfang ähnlichen Teilen. Der erste Teil ist eine theologische Grundsatzreflexion, in der nicht nur das Wesen der Liebe, sondern zugleich die innere Verbindung zwischen der Liebe Gottes und der Realität der menschlichen Liebe aufgezeigt werden (Nr. 2-18). Über den zweiten Teil sagt der Papst selbst (Nr. 1, Ende): „Der zweite Teil wird konkreterer Natur sein, denn er soll die kirchliche praktische Umsetzung des Gebotes der Nächstenliebe behandeln.“ Der Papst weist hier freilich auf die Grenzen einer Enzyklika hin, denn das Thema der Liebe Gottes und der Menschen ist sehr umfangreich. Der Papst wollte aber offenbar auch bewusst mit dem Umfang von ca. 60 kleineren Seiten dem in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer größer gewordenen Umfang von Enzykliken Grenzen setzen. Deshalb muss er sich letztlich auch, was in einem Weltrundschreiben aus anderen Gründen angezeigt ist, auf das Wesentliche konzentrieren: „Mein Wunsch ist es, auf einige grundlegende Elemente nachdrücklich einzugehen, um so in der Welt eine neue Lebendigkeit wachzurufen in der praktischen Antwort der Menschen auf die göttliche Liebe.“ (Nr. 1, letzter Satz). – Der Schluss (Nr. 40-42) ist dem Zeugnis großer Heiliger und besonders auch der Mutter Maria gewidmet.
Ich kann hier natürlich nicht den Inhalt im Detail vorstellen. Dafür haben Sie eine vom Hl. Stuhl herausgegebene Zusammenfassung, die wir in deutscher Übersetzung, die freilich auf unser Konto geht, Ihnen zur Verfügung stellen können (vgl. Die erste Enzyklika von Papst Benedikt XVI., „Deus cariats est“ über die christliche Liebe). Ich will aber dennoch Sie ein wenig durch den Text führen, bevor ich eine Würdigung versuchen will.
Der erste Teil mit der grundlegenden Reflexion ist ziemlich anspruchsvoll. Es wäre verlockend, aber verkehrt, daraus nur einige Themen und Sätze herauszubrechen, die ein oberflächliches Interesse erwirken können, also z.B. „Papst-Enzyklika warnt vor Liebe als bloßem Sex“, „Papst verurteilt in Enzyklika Eros ohne Liebe“. Der Papst mutet uns in diesem ersten Teil nicht nur theologisch viel zu. Man braucht hier Geduld. Der Papst analysiert nach einem Hinweis auf die Vieldeutigkeit des Wortes Liebe den „Eros“, jene Dimension der Liebe, die sich aus der gegenseitigen Anziehungskraft von Mann und Frau ergibt. Hier beschreibt Benedikt XVI auch mit Worten antiker Dichter und Denker die ganze Macht des Eros, die letztlich – auch noch im Rausch und der „Göttlichen Raserei“ – die Vereinigung mit dem Göttlichen will. Die Bibel des Alten und Neuen Testamentes erteilt vor allem der zerstörerischen Entstellung der Liebe im Eros den Kampf an. Der Eros bedarf der Zucht und Reinigung, „um dem Menschen nicht den Genuss eines Augenblicks, sondern einen gewissen Vorgeschmack der Höhe der Existenz zu schenken – jener Seligkeit, auf die unser ganzes Sein wartet“ (Nr. 4).
Der Eros, den der Papst zu seinem Recht kommen lässt, wird gereinigt und geheilt durch die biblisch und vor allem auch christlich verfasste Liebe (Agape). Hier nimmt Papst Benedikt eine in der Theologie vor allem des 20. Jahrhunderts lange geführte Diskussion über das Verhältnis von Eros und Agape auf. Eine Diskussion, die mit den Namen von S. Kierkegaard, S. Freud und J.-P. Sartre, vor allem aber auch mit dem berühmten Buch des schwedischen Theologen Anders Nygren „Eros und Agape“ (2 Bände, Göttingen 1930-1937) verbunden ist. Nygren hat das christliche Grundmotiv der Agape dem Motiv des Eros, worin er vor allem das platonische Denken versammelt sah, gegenübergestellt. Der Papst geht vor allem auf F. Nietzsche ein (vgl. Nr. 3). Aber auf das Hohe Lied der Bibel (vgl. Nr. 6, 10) eingehend sieht der Papst hier ein differenziertes Verhältnis. Unterscheidungen von Eros und Agape (vgl. Nr. 6 und 7) sind keine radikalen Gegensätze. Sonst „würde das Eigentliche des Christentums aus den grundlegenden Lebenszusammenhängen des Menschseins ausgegliedert und zu einer Sonderwelt, die man dann für bewundernswert ansehen mag, die aber doch vom Ganzen der menschlichen Existenz abgeschnitten würde. In Wirklichkeit lassen sich Eros und Agape – aufsteigende und absteigende Liebe – niemals ganz voneinander trennen (vgl. die schöne Beschreibung in Nr. 7, Mitte).
Dies führt zur Überzeugung, dass die Liebe im Letzten eine einzige Wirklichkeit ist, aber sie hat verschiedene Dimensionen. Wenn diese auseinander fallen, entsteht eine Karikatur oder eine Kümmerform von Liebe. Damit ist auch zum Ausdruck gebracht, dass die Liebe immer einen personal orientierten Charakter haben muss. Sonst ist er in Gefahr zu entarten. „Der zum ‚Sex’ degradierte Eros wird zur Ware, zur bloßen ‚Sache’; man kann ihn kaufen und verkaufen, ja der Mensch selbst wird dabei zur Ware ... die scheinbare Verherrlichung des Leibes kann ganz schnell in Hass auf die Leiblichkeit umschlagen.“ (Nr. 5) Gleichsam zusammenfassend sagt der Papst: „Ja, Eros will uns zum Göttlichen hinreißen, uns über uns selbst hinausführen, aber gerade darum verlangt er einen Weg des Aufstiegs, der Verzichte, der Reinigungen und Heilungen.“ (Nr. 5, Ende) Diese Grundstruktur, die vor allem auch philosophische Überlegungen einschließt, wird in der Enzyklika am Gottesbild und am Menschenbild näher exemplifiziert, vor allem im Blick auf das Neue des biblischen Glaubens (vgl. dazu Nr. 9ff.). In der Menschwerdung Jesu Christi findet dieses Neue „einen unerhörten Realismus“ (vgl. Näheres Nr. 12ff.). Gerade die Sakramente haben dabei auch einen sozialen Charakter.
Schließlich erweckt der Papst zwei Fragen, ob man nämlich Gott überhaupt lieben kann, den wir doch nicht sehen, und ob man Liebe gebieten kann (vgl. Nr. 16-18). Liebe ist mehr als nur Gefühl. „Gefühle kommen und gehen. Das Gefühl kann eine großartige Initialzündung sein, aber das Ganze der Liebe ist es nicht.“ (Nr. 17) Gottes- und Nächstenliebe gehören eng zusammen, sodass der Papst auch sagen kann: „Wenn die Berührung mit Gott in meinem Leben ganz fehlt, dann kann ich im anderen immer nur den anderen sehen und kann das göttliche Bild in ihm nicht erkennen. Wenn ich aber die Zuwendung zum Nächsten aus meinem Leben ganz weglasse und nur ‚fromm’ sein möchte, nur meine ‚religiösen Pflichten’ tun, dann verdorrt auch die Gottesbeziehung. Dann ist sie nur noch ‚korrekt’, aber ohne Liebe. Nur meine Bereitschaft auf den Nächsten zuzugehen, ihm Liebe zu erweisen, macht mich auch fühlsam Gott gegenüber.“ (Nr. 18). (Vgl. hierzu das kleine, längst vergriffene Buch von J. Ratzinger, Die Christliche Brüderlichkeit, München 1960; zurzeit nur in italienischer Sprache erhältlich.)
Der zweite Teil ist gleich zu Beginn in der Übersetzung durch die ungebräuchlich oder missverständlich gewordenen Worte „Liebestun“ und „Liebesdienst“ belastet (in italienischer Sprache ist dies einfacher, vgl. „l´esercizio dell´amore, la caritá, servizio caritativo, attività caritativa, azione caritativa“). Aber dass soll nicht das Verständnis belasten. Zuerst wird die trinitarische Dimension der Liebe entfaltet (Nr. 20), vor allem aber erscheint die Kirche als Gemeinschaft der Liebe, die freilich in der Verwirklichung verschiedene Organisationsformen verlangt. Aber der Kern bleibt: „Innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen darf es keine Armut derart geben, dass jemandem die für ein menschenwürdiges Leben nötigen Güter versagt bleiben.“ (Nr. 20, Ende)
Es wird nun gezeigt, wie dieses „ekklesiale Grundprinzip“ (Nr. 21) in der frühen Kirche (Diakonat) verwirklicht wurde, wie es mit der Verkündigung des Wortes und der Spendung der Sakramente bzw. der Feier des Gottesdienstes mit zu den Grundsäulen der Kirche gehört (Nr. 22) und wie es dafür auch schon früh rechtliche und institutionelle Strukturen gibt (Nr. 23f.). Auch die Gegner der Kirche haben die Überlegenheit der organisierten und praktisch geübten Nächstenliebe als ein wichtiges Kennzeichen von Glaube und Kirche erkannt. (Dazu viele Belege bei Christoph Markschies, Warum hat das Christentum in der Antike überlebt? = Forum ThLZ.F 13, Leipzig 2004, bes. 42ff.) Es ist im Übrigen schon früh deutlich geworden, dass die wirksame Erfüllung der Nächstenliebe notwendigerweise auch eine gewisse Organisation voraussetzt. Man muss also deutlich sehen, dass die sublime theologische Vertiefung im ersten Teil eine sehr nüchterne Betrachtung der Verwirklichung dieser Liebe nicht ausschließt, sondern geradezu erforderlich macht. Die praktizierte Nächstenliebe ist jedenfalls ein entscheidendes Kennzeichen der christlichen Gemeinde und der Kirche überhaupt.
Hier sind zwei Erkenntnisse zusätzlich wichtig, nämlich die schon erwähnte enge Zusammengehörigkeit des dreifachen Auftrags der Kirche (kerygma – martyria, leiturgia, diakonia), aber auch die Unentbehrlichkeit der Caritas. Sie „ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte, sondern gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst“ (Nr. 25a). Darum wird auch mit aller Deutlichkeit zur Universalität der Liebe aufgerufen: „Die Kirche ist Gottes Familie in der Welt. In dieser Familie darf es keine Notleidenden geben. Zugleich aber überschreitet Caritas-Agape die Grenzen der Kirche.“ (25b mit Verweis auf das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, Lk 10,31 und Gal 6,10)
Die Enzyklika beschäftigt sich immer wieder mit dem Marxismus (vgl. z.B. Nr. 26, 27, 31). In seinem Gefolge werden oft Liebe und Gerechtigkeit gegeneinander ausgespielt. Dies ist zu Beginn der Nr. 26 sehr drastisch formuliert (vgl. den Text). Hier wird auch das Versäumnis der Kirche in der Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts deutlich beim Namen genannt: „Man muss zugeben, dass die Vertreter der Kirche erst allmählich wahrgenommen haben, dass sich die Frage nach der gerechten Struktur der Gesellschaft in neuer Weise stellte. Es gab Wegbereiter; einer von ihnen war zum Beispiel Bischof Ketteler von Mainz (+ 1877)“ (Nr. 27). Daraufhin werden die wichtigsten Sozialenzykliken genannt – bis hin zum Kompendium der Soziallehre der Kirche, das im Jahr 2004 vom „Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden“ herausgegeben wurde und im Februar 2006 in deutscher Sprache erscheinen wird (vgl. Einladung zur Pressekonferenz am 1. Februar in Mainz). Schließlich sagt der Papst: „In der schwierigen Situation in der wir heute gerade auch durch die Globalisierung der Wirtschaft stehen, ist die Soziallehre der Kirche zu einer grundlegenden Wegweisung geworden, die weit über die Kirche hinaus Orientierungen bietet. Angesichts der fortschreitenden Entwicklungen muss an diesen Orientierungen im Dialog mit all denen, die um den Menschen und seine Welt ernstlich Sorge tragen, gemeinsam gerungen werden.“ (Nr. 27, Ende) Die Soziallehre ist also immer auch im Wandel und nie einfach „fertig“.
Der Papst erläutert nun in der wohl umfangreichsten Nummer des Textes (Nr. 28) dieses Ringen um Gerechtigkeit und Liebe. Der Unterschied und die Bezogenheit von Politik und Glaube aufeinander werden aufgezeigt. Die Bedeutung des Glaubens wird hervorgehoben. Sie liegt vor allem auch in der Reinigung der Vernunft (vgl. Nr. 28). Hier kommt es zu guten Formulierungen über die Aufgabe der Kirche in Politik und sozialer Gestaltung der Gesellschaft: „Sie (die Kirche) kann und darf nicht sich an die Stelle des Staates setzen. Aber sie kann und darf im Ringen um Gerechtigkeit auch nicht abseits bleiben. Sie muss auf dem Weg der Argumentation in das Ringen der Vernunft eintreten und sie muss die seelischen Kräfte wecken, ohne die Gerechtigkeit, die immer auch Verzichte verlangt, sich nicht durchsetzen und nicht gedeihen kann ... das Mühen um die Gerechtigkeit durch eine Öffnung von Erkenntnis und Willen für die Erfordernisse des Guten geht sie zutiefst an.“ (Nr. 28, Ende von a) Aber gerade so wird auch die Unentbehrlichkeit der Caritas offenkundig: „Liebe ... wird immer nötig sein, auch in der gerechtesten Gesellschaft. Es gibt keine gerechte Staatsordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte“ (28b).
Damit ist auch grundsätzlich die Aufgabe der Kirche bestimmt (vgl. die Formulierungen in Nr. 29, Anfang). In diesem Zusammenhang ist die Rede von der Aufgabe der einzelnen Christen, aber auch von der ureigensten Aufgabe der caritativen Organisationen der Kirche, die ein unmittelbar selbstständiges Subjekt sind. Deutlich sagt der Papst, dass es nie eine Situation geben wird, „in der man der praktischen Nächstenliebe jedes einzelnen Christen nicht bedürfte, weil der Mensch über die Gerechtigkeit hinaus immer Liebe braucht und brauchen wird.“ (Nr. 29, Ende)
Nun klärt der Papst die vielfältigen Strukturen des Dienstes der Caritas durch die Kirche im heutigen sozialen Umfeld (Nr. 30), wo es aufschlussreiche Äußerungen zur Rolle der Medien, zur Globalisierung, zur Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche, zum Ehrenamt und auch zur ökumenischen Kooperation gibt. Gleichzeitig wird das spezifische Profil der kirchlichen Caritasarbeit hervorgehoben (vgl. Nr. 31) (Professionelle Kompetenz, Menschlichkeit, Unabhängigkeit, „Proselytismus“). Ausführlich werden auch die Träger des caritativen Handelns der Kirche beschrieben, angefangen vom Päpstlichen Rat „Cor Unum“ über die Caritasarbeit der Diözesen und Gemeinden bis zu den einzelnen Mitarbeitern (vgl. Nr. 32). Hier wird immer wieder das Direktorium „Apostolorum Successores“ der Kongregation für die Bischöfe vom Jahr 2004 erwähnt (demnächst in deutscher Übersetzung). Das Programm heißt: „Kirche als Familie Gottes muss heute wie gestern ein Ort der gegenseitigen Hilfe sein und zugleich ein Ort der Dienstbereitschaft für alle der Hilfe Bedürftigen, auch wenn diese nicht zur Kirche gehören.“ (Nr. 32) Es wird an die Pflichten aller Amtsträger erinnert. Die besonderen Anforderungen an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind unüberhörbar (vgl. vor allem 34ff.). Die Unentbehrlichkeit des Gebetes wird herausgestellt (vgl. 36/37). Aber mit aller Deutlichkeit heißt es auch: „Die Frömmigkeit schwächt nicht den Kampf gegen die Armut oder sogar das Elend des Nächsten.“ Schließlich wird aufgezeigt, wie Glaube, Hoffnung und Liebe zusammengehören (Nr. 39). Von der Liebe sagt der Papst am Ende der Nr. 39, mit der der zweite Teil schließt: „Sie ist das Licht – letztlich das einzige –, das eine dunkle Welt immer wieder erhellt und uns den Mut zum Leben und zum Handeln gibt. Die Liebe ist möglich, und wir können sie tun, weil wir nach Gottes Bild geschaffen sind. Die Liebe zu verwirklichen und damit das Licht Gottes in die Welt einzulassen – dazu möchte ich mit diesem Rundschreiben einladen.“
Der Schluss (Nr. 40-42) bringt mit eindrucksvollen Hinweisen auf die Heiligen als berühmte Vorbilder gelebter Caritas, angefangen vom hl. Martin bis zur seligen Theresia von Kalkutta, und besonders auf Maria, wie die Gottesmutter vor allem im Magnificat erscheint, eine lebendige Bestätigung und Bekräftigung des Gesagten.
Die Enzyklika spricht für sich selbst. Die beiden Teile sind bei aller Verschiedenheit eng miteinander verbunden. Das Weltrundschreiben ist wirklich für die ganze Welt geschrieben. Deshalb darf man nicht die Lösung einzelner Probleme in spezifischen Ländern suchen. Es geht dem Papst um die grundlegenden Haltungen des Christen in unserer Welt. Ja, es geht um die Grundhaltung schlechthin, nämlich der Liebe. Der Papst geht damit ganz bewusst hinein in das Zentrum der christlichen Botschaft. Am Ende der einleitenden Nr. 1 sagt er auch deutlich, dass dies „eine Botschaft von hoher Aktualität und von ganz praktischer Bedeutung“ ist. Er hebt den programmatischen Aspekt der Enzyklika hervor, wenn er seine Absicht sieht, „darin – zu Beginn meines Pontifikats – einige wesentliche Punkte über die Liebe, die Gott dem Menschen in geheimnisvoller Weise und völlig vorleistungsfrei anbietet, zu klären und zugleich die innere Verbindung zwischen dieser Liebe Gottes und der Realität der menschlichen Liebe aufzuzeigen.“ (Nr. 1) Ich bin überzeugt, dass der Papst angesichts der Situation in der Welt und im Blick auf die Chance des christlichen Glaubens ins Schwarze trifft. In diesem Sinne begrüßen wir Bischöfe – aber nicht nur wir – dankbar die Wahl und Durchführung des Themas. Es ermutigt uns, gerade auch in unseren Bemühungen um Gerechtigkeit und Liebe, nicht zuletzt auch angesichts der heutigen Not des Sozialstaates. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der vielfältigen Caritas werden dadurch ermutigt, ebenso alle politisch tätigen Frauen und Männer. Es wird auch deutlich gesagt, wie die Verantwortlichkeiten in Politik, Gesellschaft und Kirche in ihrer Verschiedenheit und in ihrem Zusammenwirken gesehen werden sollten.
Die Enzyklika schöpft aus der Fülle des christlichen Glaubens. In den knapp 40 Anmerkungen werden die Kirchenväter aus Ost und West, die Päpste des letzten Jahrhunderts, das Zweite Vatikanische Konzil und vor allem die Bibel in beiden Testamenten gehörig zu Wort gebracht. Die Heiligen als Zeugen fehlen nicht. Schließlich werden auch antike Dichter und Schriftsteller (Vergil, Sallust) und große Denker zur Geltung gebracht (Plato, Aristoteles, Descartes, Marx, Nietzsche). Natürlich hat der hl. Augustinus bei dem Papst, der schon seine Doktorarbeit über ihn gemacht hat und ihn seither ständig begleitet, einen hohen Rang. Auch die Überlegungen der vatikanischen Behörden und Institutionen fehlen nicht. Es ist ein gleichmäßiges Berücksichtigen der Quellen des Glaubens aus Schrift und Tradition, wie in einem bunten, sorgsam gewebten Teppich.
Der Papst hat kein leicht zu lesendes Schreiben hinterlassen, besonders im ersten Teil. Die Sprache ist einfach, aber er verlangt dennoch die Anstrengung des Begriffs. Dies ist eine Herausforderung gegen alle Schlagworte und nimmt uns in Anspruch, große und auch heute aktuelle Tradition zu vergegenwärtigen. Bildung und Kirche gehören von jeher zusammen, auch wenn dies manchmal vergessen wird. Und dies gilt gerade auch angesichts der Nöte unserer Welt.
Über den ökumenischen Aspekt habe ich schon eingangs gesprochen. Dieser Zusammenhang kommt direkt nur an einer Stelle vor (vgl. Nr. 30, Ende), aber es ist wohl überdeutlich geworden, dass diese Enzyklika durch den tiefen Rückgang auf die Bibel und die grundlegende Botschaft, die von den anderen Kirchen wohl nicht sehr verschieden gesehen werden kann, einen radikalen ökumenischen Charakter hat, auch wenn dieser mehr mittelbar in Erscheinung tritt. Auch die Wahl des heutigen Tages spricht ja auch eine eigene Sprache.
Es ist ein theologisch, spirituell, pastoral und sozial tief angelegter Impuls, mit dem der Papst uns für die Sendung in der heutigen Welt mehr Mut machen will. Dafür danken wir ihm.
Herausgeber: P. Dr. Hans Langendörfer SJ
Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz
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