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Lexikon der Ethik: Tugend

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Übertreibungen haben schon vieles in Verruf gebracht - auch Begriffe. Wird "Tugend" ganz auf den Aspekt vortrefflicher Tauglichkeit fixiert, kann sie sogar ganz und gar unmoralischen Unternehmungen nützlich erscheinen. Mit "Mut", "Fleiß" und "Loyalität" z. B. lässt sich, so gesehen, auch die Effektivität von Raubzügen steigern. Kaum weniger freilich untergräbt den Respekt vor der "Tugend", wer sie mit den konventionell-moralischen Verhaltenserwartungen einer Gemeinschaft oder Gesellschaft gleichsetzt. Den Beginn lebendiger Moralität markiert (zwar nicht generell, wie etwa in Novalis' romantischem Verständnis der Tugend als "Gefühl der Kraft", aber doch) immer wieder gerade dies: dass jemand "aus Tugend gegen die Tugend" handelt (zit. nach M. Düwell u. a. [Hg.], Handbuch der Ethik, 2002: 515).

Tugend, Glück und das Gute

Gemeinsam ist den großen, bis heute wirksamen Tugend-Konzeptionen der griechisch-römischen Antike die Verknüpfung von Tugend und Glück: Das Gutsein wird um des eigenen Glücks willen angestrebt - als höchst relevantes Mittel zum Zweck (Epikur) oder weil es selber in hohem Maße (Platon, Aristoteles) oder gar uneingeschränkt (Stoa) mit diesem höchsten menschlichen Gut identifiziert wird. Ungeachtet ihrer instrumentellen oder selbstzweckhaften Deutung kennzeichnen sowohl kognitive als auch emotionale Fähigkeiten und Kräfte die tugendhafte Lebenshaltung; sie konkretisiert sich im harmonischen Zusammenspiel verschiedener, durch Übung erworbener Verstandes- und Charaktertugenden: Der Tugendhafte hat gelernt zu beurteilen, was in der jeweiligen Situation richtig, was falsch ist. Und er ist habituell, d. h. gewohnheitsmäßig und dauerhaft, motiviert, dieser Einsicht gemäß zu handeln.

Im Anschluss an Platons Seelen- und Tugendlehre haben vier sog. "Kardinaltugenden" in der abendländischen Ethik besondere Prominenz erlangt: die (bei Platon zusammen mit der "Weisheit") dem Denkvermögen zugeordnete "Klugheit", die dem muthaften Fühlen entsprechende "Tapferkeit", die dem Begehren gemäße "Besonnenheit" und die "Gerechtigkeit", hier zu verstehen als Inbegriff der harmonischen Einheit der Seelenvermögen oder - in O. Höffes moderner Umschreibung (Lexikon der Ethik, 6. Aufl. 2002: 268) - als "Haltung der Achtung vor der Würde seiner selbst und seiner Mitmenschen". Für dieses Verständnis der Tugend(en) ist der Gedanke der "Mitte" zentral. Extreme Haltungen verfehlen ihm zufolge das Gute und das Glück. So steht eben z. B. nicht nur feiges, sondern auch tollkühnes Verhalten im Gegensatz zur Tapferkeit: Der Tapfere ist bereit, auch in Gefahr für seine wohlerwogenen Überzeugungen einzustehen - mit Vernunft und Augenmaß!
Insofern nun in den philosophischen Tugendlehren Leistungsgedanken dominieren, sind die drei sog. "theologischen Tugenden" durchaus auch als kritische Ergänzung der Kardinaltugenden zu lesen. "Glaube", "Hoffnung" und "Liebe" (Paulus: 1 Korinther 13,13; vgl. Galater 5,5f.; Kolosser 1,4f.) sind, christlich gedeutet, durch göttliche Gnade (mit)ermöglichte Tugenden: Wir Menschen antworten glaubend, hoffend und liebend auf die zuvorkommende Zuwendung Gottes in Jesus Christus.


Regel- statt Tugendethik?

Die seit der Neuzeit sich zügig und vielfältig ausdifferenzierenden Lebensverhältnisse verändern massiv auch die ethische Landschaft: Fragen nach dem guten Leben werden zunehmend "subjektiviert", autoritativ vermittelte Antworten darauf "relativiert". Unter diesen Bedingungen rückt unweigerlich die Aufgabe ins Zentrum, mithilfe allgemein oder zumindest weithin zustimmungsfähiger Regeln dennoch funktionsfähige Handlungsgemeinschaften zu erhalten bzw. möglich zu machen. Nicht mehr die Bewertung der menschlichen Person und ihrer Lebensweise "im Ganzen" ist weithin das Kernthema der Ethik, sondern die gemeinschafts- bzw. gesellschaftsverträgliche Normierung sozialen Handelns (Die Ethik Kants - dies sei, notgedrungen unerörtert, hier eingeschoben - integriert die Tugend- in die Maximenlehre und nimmt insofern eine Zwischenstellung ein.)

Die Ergänzungsbedürftigkeit wiederum der neuzeitlich-modernen Normenethiken wird seit einiger Zeit wieder, durchaus richtungsübergreifend, viel diskutiert. Der vielleicht wichtigste Impulsgeber hierzu dürfte wohl die im abschließenden Zitat von K. Hilpert (Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 10, 2001: 299) angesprochene Erfahrung sein, dass "das Zusammenleben auf freie Selbstverpflichtung der einzelnen in Gestalt v. Bereitschaften, konstanten Neigungen, Einstellungen sowie konsequenterweise auf deren Kultivierung in stabilen Lebens- u. Überzeugungsgemeinschaften nicht verzichten kann."

Klaus Ebeling
Projektleiter Ethik
Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr in Strausberg