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Innere Führung zwischen Kontinuität und Wandel

Die Generale von Baudissin (m.), mit de Maizière (l.) und von Kielmansegg (r.) 1967
Die Neufassung der Zentralen Dienstvorschrift (ZDv) 10/1 setzt einen weiteren Akzent in der Debatte um das geistig-moralische Gerüst der Bundeswehr. Seit der Wiederbewaffnung in den 1950er Jahren umgeben die Konzeption Innere Führung zahlreiche Missverständnisse, ideologische Gefechte, Ignoranz, aber auch Erfolgsgeschichten. Wolf Graf von Baudissin und seine Mitstreiter legten 1957 das "Handbuch Innere Führung" in der Erwartung vor, damit der Truppe die Ideen und Verhaltensnormen besser verständlich machen zu können. Zweifel und Nachfragen blieben. Der damalige Verteidigungsminister Helmut Schmidt nahm während seiner Bestandsaufnahme für eine umfassende Reform Anfang der 1970er Jahre diese Klagen auf und ordnete die Herausgabe einer ZDv 10/1 "Hilfen für die Innere Führung" (1972) an. Insbesondere die 28 "Leitsätze für Vorgesetzte" sollten klare Handlungsanweisungen geben. Seit Ende der 1980er Jahre beschäftigten die internationalen und gesellschaftlichen Veränderungen insbesondere das Zentrum Innere Führung. Die Überlegungen in einem "Kursbuch 2000" und zur Integration von NVA-Soldaten mündeten 1993 in eine überarbeitete Dienstvorschrift "Innere Führung".

Eineinhalb Jahrzehnte danach ist der weiter fortschreitende Wandel in Politik, Gesellschaft und Militär so offensichtlich, dass wiederum über eine Neufassung der ZDv 10/1 nachzudenken war. Sicherheit wird nunmehr in einem Netz politischer, diplomatischer, ökonomischer, ökologischer und militärischer Herausforderungen verstanden. Diesem Denken folgt die Transformation der Bundeswehr, in deren Mittelpunkt die Auslandseinsätze stehen. Die Soldaten haben den Auftrag, weltweit zur Krisenbewältigung, Konfliktstabilisierung und Aufbauhilfe beizutragen, um damit auch die Sicherheit Deutschlands zu gewährleisten. Sie begeben sich in ein ungewohntes Umfeld asymmetrischer Konfliktformen, das kaum Gemeinsamkeiten mit dem Verteidigungsauftrag im Kalten Krieg aufweist.

Verteidigungsminister Gerhard Schröder überreicht 1967 Graf Baudissin das Bundesverdienstkreuz
Im Hinblick auf die Neujustierung der Landesverteidigung ist auch in der Gesellschaft ein Strukturwandel zur Sicherheitsvorsorge zu erkennen. Die Bindungen an die Streitkräfte haben sich mental gelockert. Eine fragmentierte, individualisierte und flexibilisierte Gesellschaft neigt dazu, Militär als ein Dienstleistungsunternehmen zu verstehen. Demgegenüber tritt der werteorientierte Gemeinwohlgedanke in den Hintergrund.

Diese internationalen und gesellschaftlichen Veränderungen mündeten nach dem bisher schon eingenommenen Standpunkt in unterschiedliche Schlussfolgerungen für die Innere Führung. Für die einen hat sie ausgedient, weil die Bewährung des Soldaten im Kampf andere Tugenden verlangen würde. Andere halten die Innere Führung in einer einsatzorientierten und professionellen Armee, die multinational geführt wird, für hinderlich und entbehrlich. Dem gegenüber bescheinigen die Befürworter der Inneren Führung, dass sie sich - auch im Einsatz - bewährt hat. Aus Sicht einer weiteren Position muss die Innere Führung sogar vor Aushöhlung verteidigt und konsequenter im Truppenalltag umgesetzt werden.

Mit einer Weiterentwicklung der Konzeption wurden konkrete Erwartungen an eine neue ZDv 10/1 verknüpft. In einer Dienstvorschrift sind klare Orientierungen für Soldaten und Vorgesetzte zu geben. Die Leitgedanken zur Inneren Führung sollten deshalb in sich schlüssig und praxisorientiert formuliert sein. Dem will der Aufbau der Vorschrift gerecht werden.

Sie besteht aus sechs Kapiteln und einem Anhang. In den ersten fünf Kapiteln wird die Konzeption in ihrem Anspruch, den historischen Bezügen, Grundsätzen, Zielen, Anforderungen sowie als Verhaltsnorm und Führungskultur beschrieben. Das sechste Kapitel konkretisiert dieses Normengeflecht in so genannten Gestaltungsfeldern. He-rausgehoben werden die Menschenführung, die politische Bildung sowie das Recht und die soldatische Ordnung. Anlage 1 fasst den Kern in zehn Leitsätzen für Vorgesetzte zusammen. Auf eine Definition verzichtet die ZDv. Ihre Botschaft lässt sich am prägnantesten aus der Nr. 301 ablesen: "Durch die Innere Führung werden die Werte und Normen des Grundgesetzes in der Bundeswehr verwirklicht. Sie bildet die Prinzipien von Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit in den Streitkräften ab. Ihr Leitbild ist der ,Staatsbürger in Uniform'". Dieser Wertekanon wird um Menschenwürde, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität ergänzt. Die Innere Führung soll diesen Werten auch in den Streitkräften zur Durchsetzung verhelfen und dabei im Spannungsfeld mit den militärischen Anforderungen um Ausgleich bemüht sein.

Die Programmpunkte der ersten Sitzung des 12. Beirats für Innere Führung auf dem Laptop eines Teilnehmers
Die Bundeswehr ist unter Geltung des Grundgesetzes und aufgrund der historischen Erfahrungen als Armee in der Demokratie angelegt. Sie untersteht dem Primat der Politik und den Entscheidungen des Parlaments. Der Soldat ist ein "Staatsbürger in Uniform", dem sämtliche demokratischen Rechte zustehen, die nur im Rahmen seiner militärischen Pflichten eingeschränkt werden dürfen. Er ist aufgefordert, die Grundsätze der Inneren Führung als Handlungskonzept zu verinnerlichen und zu jeder Zeit und an jedem Ort anzuwenden. Damit benennt die Vorschrift die Konstanten in der Konzeption.
In der Debatte um ihre Weiterentwicklung wurde erkannt, dass die Soldaten eindeutige Kriterien wünschen, mit denen sie die Legitimation und den Sinn von Einsätzen nachvollziehen können. Die Vorschrift muss weiterhin deutlich machen, dass sich Innere Führung nicht auf eine Führungsphilosophie für den Binnengebrauch reduzieren lässt, sondern sich als Organisationsphilosophie auch auf das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Militär erstreckt. Und schließlich bedarf das Soldatenbild angesichts der multifunktionalen Aufgaben in unübersichtlichen Strukturen einer geistig-moralischen Fundierung und Konturenschärfe.

Kapitel 4 benennt als Ziele der Inneren Führung, den Sinn des militärischen Auftrags zu begründen, zur Integration in Staat und Gesellschaft beizutragen, dabei die Soldaten zum einsichtigen und eigenverantwortlichen Handeln zu motivieren sowie die militärische Ordnung wirkungsvoll zu gestalten.
Die Begründung für den soldatischen Dienst wird durch eine Aufzählung der Interessen deutscher Sicherheitspolitik unterfüttert. Das stellt in einer Vorschrift einen Erkenntnisgewinn dar, der angesichts der allgemeinen, unumstrittenen Aussagen für Sicherheit, Wohlstand und Menschenrechte ebenfalls eine Konkretisierung an anderer Stelle erfordert. Die Soldaten sind in einer pluralistischen, differenzierten und sich wandelnden Gesellschaft integriert und empfangen von ihr Impulse. Hierin wird auf die Dynamik der Konzeption verwiesen. Der "Staatsbürger in Uniform" bleibt bei aller Öffnung dennoch traditionellen soldatischen Tugenden verpflichtet. Die Vorgesetzten sind aufgefordert, zur Prägung einer ethisch gefestigten Persönlichkeit beizutragen. Der Soldat bedarf der moralischen Urteilsfähigkeit, weil er letztendlich im Kampf töten muss und selbst getötet werden kann. Zweifelsfrei liegt hier ein Soldatenbild vor, das klare Absagen an ein rein militärisches und funktionales Denken erteilt.
Es ist zu erwähnen, dass aufgrund des Charakters einer Dienstvorschrift vorrangig die Soldaten und eher am Rande alle anderen Angehörigen der Bundeswehr von diesem werteorientierten Führungsmodell angesprochen werden. Die Erwartungen an die Politik und die Gesellschaft können mit der ZDv 10/1 daher kaum erfüllt werden. Insgesamt liegt ein Regelwerk vor, das sich radikal an den Gedanken Baudissins orientiert hat und in der Praxis nun mit Leben gefüllt werden muss.

Hans-Joachim Reeb