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Forderung nach gründlicher Aufarbeitung

Unzufrieden über den Umgang der Politik mit den Auslandseinsätzen

Prof. Dr. Harald Müller, Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung
Kompass: Seit dem Ende der Nachrüstungsdebatte in Deutschland in den 80er Jahren kann von einer friedens- und sicherheitspolitischen Debatte, die über den engeren Kreis der professionell damit befassten Fachleute hinausgeht, kaum mehr die Rede sein. Selbst regierungsamtliche Weißbücher, die Auskunft über Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Deutschland geben, finden wenig öffentliches Interesse. Was können Sie als Gründe dafür nennen? Ist der Eindruck „still ruht der See“ begründet?

Professor Müller: Zunächst einmal: Auch in der alten Bundesrepublik waren breite öffentliche Debatten zur Sicherheitspolitik eher die Ausnahme. Spektakuläre Ereignisse wie die „Nachrüstungsdebatte“ sollten dieses Bild nicht verzerren. Sicherheitsfragen waren immer das arkane Feld einer Expertokratie. Das Nachlassen der Gefahren nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat diesen Trend nicht geschaffen, aber sicherlich noch verstärkt.

Eigentlich ist das kein schlechter Beweis für den gesunden Menschenverstand der deutschen Bevölkerung: Sie hat sich unter dem Banner des „erweiterten Sicherheitsbegriffs“ nicht einreden lassen, dass die Bedrohungen heute größer seien als zu der Zeit, als siebzehn sowjetische Divisionen in Reichweite standen und auf dem Territorium der beiden deutschen Teilstaaten Tausende von einsatzfähigen Kernwaffen stationiert waren. Verglichen damit ist unsere Lage trotz der nicht zu unterschätzenden Gefahren aus dem internationalen Terrorismus komfortabel. Und damit natürlich die öffentliche Aufmerksamkeit für Sicherheitsfragen gering. Die Wirtschaftskrise geht den Leuten einfach näher, und das ist auch vernünftig.

Kompass: Vor einiger Zeit sprach in diesem Zusammenhang Bundespräsident Horst Köhler von einem „freundlichen Desinteresse“ – und dies gerade zu einem Zeitpunkt, als der Einsatz deutscher Streitkräfte außerhalb der bündnisbezogenen Landesverteidigung gleichsam zur Normalität geworden ist und Soldatinnen und Soldaten mit Töten, Tod und Verwundung konfrontiert sind. Werden diese Fragen nicht eher verdrängt, ausgeblendet, oder herrscht einfach nur Desinteresse?

Professor Müller: Ich glaube Desinteresse ist der falsche Begriff. Werden in Umfragen die Leute nach diesen Einsätzen gefragt, so zeigt sich schnell, dass es dazu Meinungen gibt. Übrigens ist der Anteil der „weiß nicht“-Antworten in diesen Umfragen ziemlich gering. Das weist darauf hin, dass die Befragten sich durchaus Gedanken über die Einsätze machen, also nicht verdrängen oder ausblenden. Diese Gedanken rangieren aber im zweiten und dritten Glied der persönlichen Prioritäten – siehe oben.

Kompass: Nun herrscht oftmals der Eindruck vor, deutsche Soldatinnen und Soldaten leisteten in Auslandseinsätzen einen Dienst, der einem „bewaffneten Technischen Hilfswerk“ ähneln könnte. Können Sie Fehler und Versäumnisse in der Begründung des Einsatzes deutscher Streitkräfte – gerade mit Blick auf die Situation in Afghanistan – registrieren?

Professor Müller: Ich bin mit dem Umgang der Politik mit den Auslandseinsätzen ausgesprochen unzufrieden. Zum einen wird mit verderblichen Leerformeln gearbeitet wie dem berühmten „Die deutsche Sicherheit wird heute am Hindukusch verteidigt“. Ein toller Aphorismus, aber vollständig falsch – wir sind dort aus Solidarität mit einem Bündnispartner hingegangen, nicht um der eigenen Sicherheit willen, und alle Geheimdienstberichte weisen darauf hin, dass die Gefährdung Deutschlands durch den Einsatz eher gestiegen ist. Deshalb kann er trotzdem richtig sein – aber man sollte nicht den Versuch unternehmen, das deutsche Volk durch Irreführung zur Zustimmung zu veranlassen. Dass das ohnedies nicht klappt, zeigen die Umfragen seit mehr als einem Jahr, die nach anfänglicher knapper Zustimmung zu diesem Einsatz nun in mehrheitliche Ablehnung umgeschlagen sind.

Generell sehe ich – zweitens – eine Tendenz der deutschen Politik, bei Auslandseinsätzen zwar dabei sein zu wollen, aber nach dem illusionären Prinzip „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ In Kambodscha haben wir eine Sanitätereinheit eingesetzt, in Osttimor ein paar Hubschrauber, in Somalia wurde das deutsche Kontingent Hunderte von Kilometern außerhalb der Kampfzone Mogadischu stationiert, in Kinshasa auf dem Flughafen, in Afghanistan im vermeintlich sicheren Norden, im Libanon auf See. Nur in Kosovo und Bosnien ging man mit offenen Augen mitten ins Geschehen. Dabei entsteht die Illusion, die Einsätze seien womöglich relativ gefahrlos. Das ist grundfalsch: Jeder bewaffnete Einsatz, auch zum Zweck der reinen Friedenssicherung, führt die entsandten Soldatinnen und Soldaten ins Risiko, und man tut ihnen deshalb enorm Unrecht, wenn man glaubt, durch die Steuerung der Einsatzformen in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken zu können, dieses Risiko sei gering.

Drittens finde ich die Auseinandersetzungen mit der Bilanz der Einsätze ausgesprochen unernst. Es gibt eine breite Koalition von CSU bis Grünen, die die Einsätze als möglichst erfolgreich darstellen möchten, weil sie an den Entsendeentscheidungen beteiligt waren. Psychologisch ist das verständlich, politisch wenig hilfreich. Ein oberflächlicher Blick zeigt, dass die Bilanz extrem gemischt ist: Im Kosovo haben wir der Etablierung eines kriminalisierten Staates und einer partiellen ethnischen Säuberung (der Kosovo-Serben) zugesehen. In Bosnien ist statt der erhofften multiethnischen Föderation eine ethnopolitische Konföderation entstanden, die durch die auswärtige Präsenz nur höchst künstlich zusammengebunden wird. In Afghanistan hat sich die Sicherheitslage seit dem Beginn des Einsatzes beständig verschlechtert, das Aufpflanzen demokratischer Institutionen auf eine traditionelle Klan- und Stammesgesellschaft hat letztlich nicht funktioniert. Um es nochmals zu betonen: All das heißt nicht von vornherein, dass Einsätze falsch sind. Aber ich wünsche mir, dass der deutsche Bundestag die – vor allem für die Streitkräfte – schicksalhaften Entscheidungen in vollem Bewusstsein der Erfolgsaussichten trifft. Und dazu bedarf es jetzt, nach weit mehr als einem Jahrzehnt ständiger Einsatzpraxis, einer gründlichen Aufarbeitung, am besten durch eine Enquete-Kommission, die von Exekutive und Legislative unabhängig arbeiten kann. Wird unsere Politik den Mut zu einer solchen Bilanz haben? Ich weiß es nicht.

Das Interview führte Josef König.