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Gewissen

Lexikon der Ethik

Dem Menschen ist es nicht nur gegeben, sein Handeln als lustvoll bzw. schmerzhaft zu verspüren oder als nutzbringend bzw. unnütz zu berechnen. Aufgegeben ist ihm auch, es als gut bzw. schlecht zu bewerten. Gleich dem moralischen Denken durchbricht auch das Gewissen die "Logik" rein lustfixierter und bloß schlau kalkulierender Lebensformen. Allerdings darf das Gewissen nicht einfach als Synonym für praktische Vernunft betrachtet werden: Es ist mehr als das rationale Vermögen, Handlungen und Handlungsziele unter moralischen Kriterien zu beurteilen. Im Gewissen erfährt sich der einzelne Mensch selbst als unmittelbar und unvertretbar Betroffener unter den unbedingten Anspruch des Guten gestellt; es bestimmt ihn zu einer "ethischen Existenz", wacht über seine personale Integrität.

Anspruch des Gewissens

Auch wenn die Wurzeln der Begriffsgeschichte in Jerusalem und Athen liegen und bildhafte Sprechweisen sich in allen Kulturen finden: eine systematische Theorie entwickelte erst die scholastische Theologie des Mittelalters. Je nach Schule wurde stärker das Wissen um Gut und Böse (Thomas von Aquin und die dominikanische Schule) oder der ursprunghafte Willen zum Guten (Bonaventura und die franziskanische Schule) betont. Ihre bleibende Bedeutung zeigt die übliche Unterscheidung der "Gewissensanlage" als Wissen um Gut und Böse und Vermögen, das Gute zu tun, von der "Gewissenstätigkeit", die sich im konkreten situationsbezogenen Gewissensspruch ausdrückt. Verbal oft nicht fassbar meldet sich das "wachsame Gewissen" vor einer Handlung warnend oder appellierend, das "reine" bzw. "schlechte Gewissen" im Nachhinein bewertend zu Wort. Der Gewissensspruch ist in seiner inhaltlichen Bestimmtheit jedoch kein unfehlbares Orakel. Im konkreten Urteil kann sich der Mensch täuschen (das sogenannte "irrende Gewissen"). Die Möglichkeit des Irrtums hebt die bindende Kraft des Gewissensspruchs zwar nicht auf, verlangt aber eine permanente kritische Selbstprüfung. Das Gewissen tritt dem Menschen auch nicht als eine von der Person unabhängige, äußere "Instanz" gegenüber; es bildet vielmehr die "Mitte der personalen Existenz" (Auer, Das Gewissen ..., 1962: 39), die über die "grundlegende Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst" wacht (Schockenhoff, Wie gewiss ist das Gewissen? 2003: 200). Für den Christen hat das Gewissen eine über das bloß Moralische hinausgehende Bedeutung; in ihm ereignet sich die Begegnung zwischen Mensch und Gott: "Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist." (Vaticaum II: Gaudium et Spes 16)

Freiheit des Gewissens

Unter ethischen Gesichtspunkten nimmt das Recht auf Gewissensfreiheit eine Sonderstellung ein, insofern es die moralische Integrität der Person selbst schützen soll. Die deutsche Verfassung gewährleistet die Gewissensfreiheit als selbständiges Grundrecht ohne Gesetzesvorbehalt (Art.4 Abs.1), wobei sich das Schutzgut nicht nur auf die Bildung (forum internum), sondern auch auf die Betätigung des Gewissens (forum externum) erstreckt. Sensibilisiert durch den "Massenschlaf des Gewissens" (Fritz Eberhard) deutscher Soldaten während des II. Weltkriegs wurde dieses Grundrecht spezifiziert in einem eigenständigen Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung: "Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden." (Art.4 Abs.3). Das allgemeine Grundrecht auf Gewissensfreiheit schützt aber bereits den Soldaten, der einen Befehl aus Gewissensgründen verweigert, wie das BVerwG in einem jüngeren Urteil (21.06.2005) feststellte, weil auch für den situationsbedingten Kriegsdienstverweigerer die Gewissensentscheidung kategorisch verpflichtend ist.

Bildung des Gewissens

Das Gewissen kann abstumpfen, wohl auch (ganz?) verstummen; es kann aber auch nur mehr oder minder sensibel, kreativ oder scharfsinnig sein. Der Mensch ist nicht nur vor seinem Gewissen, sondern auch für sein Gewissen verantwortlich. Gewissensbildung ist ein lebenslanges Projekt, die Wahrnehmung zu verfeinern, das Vorstellungsvermögen anzureichern, die Urteilsfähigkeit zu schulen. Christliche Gewissensbildung wird sich am Lebensmodell Jesu orientieren, der sich vorrangig den Bedürftigen und Benachteiligten zuwandte, die Gewaltfreiheit, Feindesliebe und Versöhnungsbereitschaft (Bergpredigt: Mt 5-7) lehrte und die gelebte Solidarität mit den Armen als Gottesbegegnung (Gerichtsrede: Mt 25,31-46) deutete.

Dr. Matthias Gillner
Dozent für Katholische Sozialethik
an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg