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"Die kleine Nadina ist über den Berg"

von Reinhold Robbe

Eine knappe Stunde dauert der Tiefflug mit dem Hubschrauber von Mazar-e-Sharif nach Kunduz. Ich befinde mich auf einem Truppenbesuch in Afghanistan. Die Maschine bewegt sich nur wenige Meter über dem Boden. Bei geöffneter Heckklappe kann ich sehen, was unter uns geschieht. Aufgeschreckt vom Lärm der Rotorblätter stürmt eine Ziegenherde auseinander. Beduinenkinder blicken neugierig nach oben. Wüstensand wird aufgewirbelt, ein undurchsichtiger Schleier entsteht. Die Piloten sind Meister ihres Faches. Kaum spürbar landet der Hubschrauber im Feldlager des Wiederaufbauteams (PRT) in Kunduz.

Vor kurzem noch stand ich während der Trauerfeier in Köln vor den Särgen der drei bei einem Selbstmordanschlag in Kunduz getöteten Soldaten. Jetzt sitzen mir im Gemeinschaftsraum des Feldlagers ihre Kameraden gegenüber. Die Stimmung ist gedrückt. Die Soldaten sind von den Ereignissen gezeichnet. Man kannte sich untereinander gut. Viele waren mit den drei getöteten Kameraden befreundet. Niemand kann das Geschehene fassen. Einem gestandenen Feldwebel laufen Tränen übers Gesicht. Er blickt traurig nach unten, als ich ihn frage, wie er mit dem Verlust seines Freundes umgeht. Ein anderer Soldat macht sich selber Mut - es muss weitergehen, meint er. Irgendwie.
Für die Soldaten im PRT ist der Anschlag auf ihre Kameraden nicht ohne Folgen geblieben. Nichts ist mehr so, wie es mal war. Unsicherheit hat sich breit gemacht. Es geht das Gerücht um, die Stimmung unter den Afghanen in den umliegenden Dörfern sei gekippt. Die Menschen fürchteten sich vor weiteren Anschlägen und seien den Deutschen gegenüber jetzt wesentlich reservierter. Andere behaupten, dem einen Anschlag würden weitere folgen. Die Taliban wüssten sehr genau, wie sensibel die deutsche Bevölkerung auf das Selbstmordattentat und den Tod der Soldaten reagiere. Ziel der Terroristen sei es, die deutsche Regierung unter Druck zu setzen, um eine Verlängerung des ISAF-Mandates zu verhindern. Viele offene Fragen, die das Leben im PRT-Lager nicht einfacher machen.

Nach einem Zwischenstopp in Feyzabad treffe ich in Kabul ein. Am Nachmittag begleite ich eine Gruppe von Soldaten in das Salimi-Kinderkrankenhaus im Zentrum der Stadt. Das Hospital wurde vor längerer Zeit von einem Ehepaar aus Schwaben gegründet. Seitdem deutsche Soldaten in Kabul im Einsatz sind, unterstützen sie die segensreiche Arbeit dort mit Geld- und Sachspenden. Dieses Mal haben die Soldaten einen Scheck mitgebracht. Stolze 3000 Euro sind zusammen gekommen. Zudem sorgen mehrere Kartons mit Kuscheltieren und Malutensilien für strahlende Kinderaugen. Ich werde von der Klinikleiterin auf die Intensivstation geführt. In einem Bettchen liegt Nadina, gerade mal 40 Tage alt. Sie wurde mit einer komplizierten Verengung der Speiseröhre eingeliefert und musste notoperiert werden. Beatmungsschläuche und Magensonden wirken geradezu monströs bei diesem kleinen Wesen. Der behandelnde Arzt sagt mir, dass eine andere Klinik die Behandlung verweigert habe. Das Kind wäre gestorben.

Nachdem ich die vier afghanischen Stützpunkte der Bundeswehr und die logistische "Drehscheibe" Termez besucht habe, sitze ich gemeinsam mit 150 deutschen Soldaten im Luftwaffen-Airbus, der uns nach Deutschland, nach Hause, zurückbringt. Kurz vor Abflug hatte mich noch ein Anruf der Klinik-Leiterin erreicht: Nadina sei über den Berg, berichtet sie mir voll Freude. Bei meinem nächsten Besuch hier wird die Kleine vielleicht schon laufen können.