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Darf der Staat unschuldige Bürger töten?

Eine ethische Wortmeldung zur Debatte über den Abschuss von Zivilflugzeugen

Prof. Dr. Gerhard Beestermöller, Institut für Theologie und Frieden (Hamburg)
"Wenn es kein anderes Mittel gibt, würde ich den Abschussbefehl geben, um unsere Bürger zu schüt-zen" - so die Antwort von Verteidigungsminister Franz Josef Jung auf die Frage, wie er reagieren würde, wenn ein Passagierflugzeug entführt und als Terrorwaffe eingesetzt werden soll, obwohl das Bundesverfassungsgericht den Versuch, einen derartigen Abschuss zu legalisieren, für verfassungswidrig erklärt hat. Der Verteidigungsminister legitimiert seinen Entschluss, in dem er auf das "Recht des übergesetzlichen Notstandes" verweist.

Der Minister hält die Vorstellung, wie es scheint, für unerträglich, tatenlos einem Anschlag vergleich-bar dem auf das World Trade Center 2001 zusehen zu müssen, obwohl er diesen, wenn nicht gänzlich verhindern, so doch in seinen Dimensionen erheblich eindämmen könnte. Genau darauf könnte nämlich der Spruch des Bundesverfassungsgerichtes hinauslaufen. Warum aber sollte man nicht ein Flugzeug abschießen, dessen Insassen nicht mehr gerettet werden können und denen nur noch wenige Minuten zum Leben bleiben, um das Leben Tausender unschuldiger Menschen zu retten? Viele Menschen werden die ethische Not des Verteidigungsministers teilen. Die Frage ist nur, ob die Lösung, die er vorschlägt, wirklich überzeugt.

Das deutsche Strafrecht kennt den rechtfertigenden (StGB § 34) und den entschuldigenden Notstand (StGB § 35). Was auch immer diese Bestimmungen besagen mögen, so ist doch unstrittig, dass sie nur für Privatpersonen, nicht für staatliche Organe gelten. Der Verteidigungsminister ist aber ein Organ des Staates. Als solcher ist er laut Grundgesetz "an Gesetz und Recht gebunden" (GG 20, (3)). Das Notstandsrecht stellt also keinerlei Rechtfertigung oder Entschuldigung für den Bundesminister bereit, zivile Flugzeuge abschießen zu lassen.

Muss der Staat also tatenlos zusehen, wie Terroristen eine entführte Passagiermaschine in ein Kern-kraftwerk lenken? Das Urteil des Verfassungsgerichts ist nicht ganz so eindeutig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. So stellt Karlsruhe fest, dass die im für verfassungswidrig erklärten Luftsicherheitsgesetz vorgesehenen "Streit-kräfteeinsätze nichtkriegerischer Art mit dem Recht auf Leben und der Verpflichtung des Staates zur Achtung und Schutz der menschlichen Würde nicht zu vereinbaren" seien. Die Frage, ob aber eine derartige Tötung im Rahmen der "Abwehr von Angriffen" erlaubt sein könne, hatte "der Senat nicht zu entscheiden". Vor diesem Hintergrund ist dann auch der Vorschlag von Innenminister Wolfgang Schäuble verständlich, eine Art Quasi-Kriegszustand einzuführen, in dem dann der Abschuss ziviler Flugzeuge in genannten Szenarien legal wäre.

Ob und wie weit eine derartige Lösung juristisch weiterhilft, soll hier dahingestellt bleiben. Wichtiger ist vielleicht die Frage, ob es ethisch erlaubt ist, Flugzeuge in beschriebenen Situationen abzuschießen. Wenn diese Frage mit ja beantwortet werden kann, wird sich auch eine juristisch saubere Lösung finden. Wenn diese Frage mit nein beantwortet werden muss, dann darf man keine juristische Lösung suchen. Für die gesellschaftliche Debatte wäre viel gewonnen, wenn diese beiden Dimensionen - die juristische und die ethische - unterschieden würden.

Zunächst gilt festzuhalten: Wenn der Abschuss ziviler Maschinen eine unzulässige Instrumentalisie-rung unschuldiger Menschen darstellen sollte, dann kann er auch nicht dadurch gerechtfertigt werden, dass nur so der Bestand des Gemeinwesens garantiert werden könne. Man stelle sich vor, eine Pandemie bräche aus. Um sie einzudämmen, müssten Experimente an Menschen durchgeführt werden - und zwar schnell. Wir nehmen an, es fänden sich auf die Schnelle keine Probanden. Dürfte man dann in die Pflegeheime gehen, und Experimente an sterbenden, komatösen Menschen durchführen, nach denen seit Jahren keiner mehr fragt? Niemals!! Eine derartige Vorstellung ist mit der Menschenrechtsidee absolut unvereinbar. Daher kann die Perspektive, das Gemeinwesen zu schützen, auch nicht den Abschuss legitimieren, wenn dieser das Grundrecht auf Leben unschuldiger Menschen verletzen würde.

Der Abschuss von Zivilflugzeugen unter den genannten Bedingungen kann auch im Krieg nur erlaubt sein, wenn er keine Instrumentalisierung unschuldiger Menschen darstellt. Ist dies der Fall, dann ist aber nicht einzusehen, dass ein derartiges Vorgehen im Rahmen der innerstaatlichen Rechtswahrung als unsittlich zu verwerfen ist.

Meine These ist, dass sich der Ab-schuss einer zivilen Maschine samt unschuldigen Passagieren rechtfertigen lässt, wenn man auf die Kategorie der Lehre von Handlungen mit doppeltem Effekt zurückgreift. Das Anliegen dieser Lehre besteht darin, dass es Handlungen gibt, die sowohl eine positive als auch eine negative Folge haben. Betrachtet man nur die positive, ist die Handlung erlaubt oder gar geboten, betrachtet man nur die negative, ist sie verboten. Man stelle sich vor, es wäre möglich gewesen, Hitler durch ein Sprengstoffattentat zu töten, dabei würde allerdings ein in der Nähe spielendes Kind vorhersehbar zu Tode kommen. Wäre dieses Attentat eine erlaubte Tyrannentötung gewesen, durch die vielleicht ein Weltkrieg zu verhindern gewesen wäre, oder eine verbotene Tötung eines un-schuldigen Kindes?

Nach der Lehre von der Handlung mit doppeltem Effekt ließe sich ein derartiges Attentat unter bestimmten Bedingungen rechtfertigen. Die erste wäre, dass es keine erfolgversprechende Alternative zu dieser Form des Attentates gegeben hätte. Zweitens müsste es wie in diesem Beispiel möglich sein, zwischen einer Haupt- und Nebenwirkung zu unterscheiden. Stellen wir uns vor, Hitler wäre mit diesem Kind in einem Haus gewesen, und die Attentäter hätten das ganze Haus in die Luft gesprengt, dann könnte man nicht mehr den Tod Hitlers als Haupt- und den des Kindes als Nebenfolge dieser Handlung qualifizieren. Man müsste von einer einzigen, unterschiedslosen Wirkung sprechen. Nur wenn die Natur der Handlung es möglich macht, zwischen einer Haupt- und Nebenwirkung zu unterscheiden, kann man von einer Nebenwirkung sprechen. Ferner müssen der Tod des unschuldigen Menschen und des Diktators gleichursprünglich aus der Attentatshandlung hervorgehen, was in dem Beispiel der Fall wäre. Es darf nicht sein, dass das Kind getötet wird, um einen Tyrannen zu töten. Darüber hinaus muss die Proportionalität gewahrt bleiben. Auch diese Bedingung wäre im Fall eines Hitler-Attentates erfüllt, denn durch die Tötung des einen unschuldigen Kindes würden Millionen unschuldige andere Kinder gerettet. Schließlich müsste die Intention der Attentäter ausschließlich auf die Tötung Hitlers gerichtet sein.

In unserem fiktiven Beispiel wäre also die Tötung Hitlers unter Inkaufnahme des Todes des Kindes nach der Lehre von der Handlung mit doppelten Effekt erlaubt. Daher spricht man von einer erlaubten, indirekten Tötung. Sie stellt letztlich den Versuch dar, selbst in höchst tragischen Situationen noch zwischen gut und böse zu unterscheiden und einzelne Unschuldige nicht einfach und gänzlich der großen Zahl oder dem Gemeinwesen zu opfern. Handlungen, die eindeutig als direkte Tötung Unschuldiger zu qualifizieren sind, können niemals erlaubt sein, was auch immer an Positivem aus ihnen folgen mag.

Die Frage ist also, ob der Abschuss einer Zivilmaschine als eine Kollateralwirkung zur Verhinderung eines Terroranschlages legitimiert werden kann oder als direkte Tötung Unschuldiger verworfen werden muss. Wir können ohne weiteres unterstellen, dass es Politikern und Soldaten nur um die Rettung der Menschen geht, die von einem Terroranschlag betroffen wären. Wir können auch einmal als gegeben voraussetzen, dass ein Abschuss äußerstes Mittel gegen einen Terroranschlag sein kann. Ferner kann es sicher Situationen geben, in denen der Abschuss eines Flugzeuges in Vergleich zu dem Schaden, der so verhindert wird, als proportional anzusehen ist. Darüber hinaus kann der Tod der unschuldigen Menschen und die Rettung der anderen als gleichursprünglich angesehen werden. Die Passagiere werden nämlich nicht getötet, um die Anderen zu retten. Denn ein Terroranschlag würde auch verhindert, wenn das abzuschießende Flugzeug gänzlich unbemannt wäre.

Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob man den Tod der Passagiere wirklich als eine Nebenwirkung bezeichnen kann, oder ob man nicht nur von einer einzigen, unterschiedslosen Wirkung, nämlich der Sprengung des Flugzeuges sprechen müsste. Wäre das Ziel des Abschusses, Terroristen unschäd-lich zu machen, dann könnte man kaum davon reden, dass der Abschuss der Maschine auf deren Tötung zugeschnitten wäre und die Tötung der Passagiere nur eine Nebenwirkung darstellen würde. Es geht aber nicht primär darum, Terroristen, sondern ein zu einer Waffe umfunktioniertes Flugzeug un-schädlich zu machen. Das wäre auch dann geboten, wenn die Terroristen über Fernsteuerung Gewalt über die Maschine hätten. Ist aber die Zerstörung des Flugzeuges Ziel der Handlung, dann kann dessen Abschuss als hierauf zugeschnitten interpretiert werden, die Tötung der unschuldigen Menschen stellt wie der Tod des Kindes eine Nebenwirkung dar. Es ist letztlich gleichgültig, ob sich die mitgetöteten Menschen neben dem Hauptziel - wie im Beispiel des Attentates - oder in diesem - wie im Beispiel des Flugzeuges - befinden. Die Bedingungen der Lehre von der doppelten Wirkung einer Handlung wären also erfüllt, die Tötung der Passagiere wäre als indirekte legitimiert.

Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Kategorie des Kollateralschadens missbraucht, oder häufig zumindest zynisch verwendet wurde. Nicht zu Unrecht galt das Wort einmal als Unwort des Jahres. Dennoch lohnt es sich, etwas länger darüber nachzudenken. Die Lehre von der Handlung mit doppeltem Effekt ist das Produkt eines jahrhundertelangen Nachdenkens über tragische Situationen, wie sie das Problem eines zur Terrorwaffe missbrauchten Flugzeuges darstellt. Sie stellt den Versuch dar, zumindest noch in bestimmten Grenzfällen - und m. E. liegt so einer hier vor - wissentlich-willentlich den Tod unschuldiger Menschen herbeizuführen und zugleich am absoluten Verbot der direkten Tötung unschuldiger Menschen festzuhalten.

Mit dieser Argumentation bleibt im Blick, dass es Situationen geben mag, in denen der Staat seiner Schutzpflicht entbunden ist, weil er ihr nur unter Verletzung des Würdeanspruchs auch nur eines Einzelnen nachkommen kann.

Prof. Dr. Gerhard Beestermöller
Institut für Theologie und Frieden (Hamburg)