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Das Iller-Unglück vor 50 JahrenEin frühes Beispiel aus der Militärseelsorge | Militärpfarrer Alois Krautwurst | Im Juni dieses Jahres gedachte die Bundeswehr zum 50. Mal eines der tragischsten Unglücke, das sie in ihrer Chronik verzeichnen musste. Die Bundeswehr stand noch in den Anfängen, als am Vormittag des 3. Juni 1957 fünfzehn Rekruten des 4. Zuges der 2. Kompanie des Luftlandejägerbataillons 19 bei einer Übung in der Iller bei Hirschdorf, 6 km nördlich von Kempten, ums Leben kamen.
Der Schock war nicht nur bei allen Beteiligten groß. Unmittelbar nach dem erschreckenden Ereignis begannen die Untersuchungen über Verantwortlichkeit und Hergang - nicht nur durch die Bundeswehr selbst, sondern auch durch den Bundestag und die Staatsanwaltschaft Kempten. Die zuständigen Vorgesetzten wurden ihres Dienstes enthoben, der Zugführer wie auch sein Stellvertreter kamen in Untersuchungshaft. In der öffentlichen Diskussion fühlten sich die Kritiker der Bundeswehr, die mit heftigen politischen Debatten die Gründung der Bundeswehr begleitet hatten, bestätigt.
Für die Bundeswehr wurde dieses Unglück zur ersten Feuerprobe ihres Bestehens. - Und für die ebenfalls noch in den Anfängen stehende Militärseelsorge, deren Dienst in den Streitkräften vom Staat ausdrücklich gewünscht worden war?
Im Archiv der Katholischen Militärseelsorge findet sich ein Bericht des kath. Standortpfarrers über seine Tätigkeit und Erfahrung aus Anlaß des Iller-Unglücks. Dieser wirkt neben all der emotional geführten Diskussion, die sich in den verschiedenen Zeitungsberichten niederschlägt, eher nüchtern und pragmatisch. Es erscheint wie selbstverständlich, dass der Standortpfarrer gleich an Ort und Stelle ist und von Beginn an die angespannte Situation begleitet und aufzufangen scheint. Auch das Bataillon hat es offensichtlich als Erleichterung empfunden, dass die beiden Militärgeistlichen unmittelbar zur Verfügung standen, um die eventuell ankommenden Angehörigen der Verunglückten empfangen und über die Situation unterrichten zu können.
Doch so selbstverständlich war die Anwesenheit des damaligen katholischen Standortpfarrers Kraut-wurst nicht: Alois Krautwurst (1912-1994), von 1942 bis 1945 Kriegspfarrer und von 1952 bis 1956 Chaplain bei den deutschen Dienstgruppen des Labor Service in München, war erst seit einigen Monaten als Katholischer Standortpfarrer für den Seelsorgebezirk Sonthofen mit den Standorten Memmingen, Kaufbeuren, Kempten und Sonthofen tätig. Am Montagmorgen des 3. Juni befand er sich eher zufällig am Standort Kempten, um die Zeiten für den Lebenskundlichen Unterricht abzusprechen und festzulegen. Deshalb konnte er unmittelbar nach Bekanntwerden des Unglücks zur Unfallstelle gehen und für die Soldaten da sein. Zu diesem Zeitpunkt war erst einer der Verunglückten tot aus dem Fluss geborgen worden.
| Die Leiche eines der
in der Iller ertrunkenen
Bundeswehrsoldaten
wird bei
Kempten ans Ufer
gebracht. | Nicht nur auf die Bitte des Bataillons hin fuhr Militärpfarrer Krautwurst am nächsten Morgen erneut nach Kempten, um die ersten Angehörigen, die erwartet wurden, zu empfangen. Krautwurst berichtet: Wir hatten also die Aufgabe, den Angehörigen mitzuteilen, daß eine Hoffnung, die Verunglückten lebend zu bergen, nicht mehr bestand. Dieser Auftrag war sehr unangenehm, doch war es begrüßenswert, daß vom Batl. aus die Pfarrer gebeten wurden. Zwei Sätze kehrten immer wieder: "Mußte das sein" und "Hätten wir unseren Jungen nicht zum Militär gehen lassen". Ich konnte allerdings feststellen, daß bei der Bergung bzw. Wiedersehen mit den Angehörigen bei der späteren Aussegnung der Gefundenen die Angehörigen keine Vorwürfe mehr erhoben. Hierbei wirkte sicher mit, daß die nichtverunglückten Rekruten des betroffenen Zuges geschlossen hinter Stabsoberjäger Julitz standen und keiner ihn irgendwie beschimpfte. Am Nachmittag des gleichen Tages nahm[en] mein evangelischer Kollege und ich an der Stabsbesprechung teil über die Ausgestaltung der Trauerfeier, wobei festgelegt wurde, daß diese am Donnerstag, den 6.6.57 sein sollte und nach vorhergehenden Gottesdiensten in der Pfarrkirche Sankt Lorenz bzw. der evangelischen Pfarrkirche Sankt Mang auf dem Kasernenhof stattfinden sollte.
Am nächsten Tag fuhr Militärpfarrer Krautwurst nach München, um mit dem "dienstaufsichtführenden katholischen Militärgeistlichen beim Wehrbereichskommando VI", Dekan Anton Kuhn (1901-1980), Inhalt und Gestaltung des Trauergottesdienstes persönlich zu besprechen. Die offizielle Trauerfeier fand noch während der laufenden Bergungsbemühungen um weiterhin vermisste Soldaten statt. Bis zum 21. Juni wurden die Leichen der verbliebenen verunglückten Soldaten gefunden. Militärpfarrer Krautwurst war entweder an der Unfallstelle oder aber bei der Identifizierung durch die Angehörigen, wie sie anfangs noch praktiziert wurde, anwesend. Anschließend hielt er in der Leichenhalle in Kempten die kirchliche Aussegnung oder war bei der Beerdigung dabei wie z. B. am 20. Juni in Kettershausen (Kreis Illertissen), wo er auf Wunsch des dortigen Ortspfarrers das Requiem hielt.
Neben der Sorge um die Hinterbliebenen bot Pfarrer Krautwurst am Pfingstsonntag auch für die Soldaten der Kompanie einen Gottesdienst an, der jedoch wegen der laufenden Bergungsaktion nur schwach besucht war.
Sein Denken und Sorgen richtete Militärpfarrer Krautwurst aber nicht nur auf die verunglückten Soldaten und ihre Angehörigen und nicht nur auf die Soldaten, die gerettet werden konnten sowie auf diejenigen, die Bergungsmaßnahmen durchführten. Er dachte auch an die beiden in Haft genommenen Stabsoberjäger, von denen der eine katholisch war. Am 18. Juni hatte er bei der Staatsanwaltschaft Kempten um Sprecherlaubnis nachgesucht und erhielt einen Dauer-Sprechschein vom Oberstaatsanwalt. Er hatte absichtlich einige Tage verstreichen lassen, um nicht etwa einen falsch zu deutenden Anschein zu erwecken. [. . .] Da vom Batl. keiner an die Verhafteten heran kam, erhielt er am 21. Juni den Auftrag, dem von ihm betreuten Verhafteten das Angebot eines Münchener Rechtsanwalts zur Übernahme der Verteidigung mitzuteilen. Als ich ihn [den Verhafteten] am 25.6. wieder aufsuchte, stellte ich fest, daß seine Haltung viel ruhiger war, nachdem er wußte, daß seine Verteidigung in guten Händen liegt.
Am 25. Juni schließlich hielten die beiden Militärgeistlichen auf eigene Anregung hin und mit sofortiger Zustimmung des Batl. vor der betroffenen 2. Kompanie Unterricht [. . .]. Wir haben diese beiden Stunden gemeinsam vor der ganzen Kompanie gehalten. Es kam uns darauf an: 1. die Männer aufzuklären, wie der Ablauf eines Verfahrens bzw. Prozesses vor sich geht; 2. im Entstehen begriffene unangenehme Folgeerscheinung des Vorfalls (Starallüren) abzubiegen. Da Pfarrer Geister neben seinem theologischen Studium Jura studiert hat und dieses Studium abgeschlossen hat, übernahm er den ersten Teil, während ich den zweiten Teil übernahm. Diese beiden Stunden sind von der genannten Kompanie außerordentlich dankbar aufgenommen worden und haben manche Klarheit geschaffen.
Was in dem vier Seiten umfassenden, eng geschriebenen Bericht so sachlich über die Tätigkeit der Militärseelsorge am Unglückstag und in den folgenden Wochen behandelt wird, hinterlässt den Eindruck einer unaufgeregten Erfüllung eines ganz selbstverständlichen Dienstes in einer extremen Ausnahmesituation. Lag es daran, dass Militärpfarrer Krautwurst über reiche Seelsorgeerfahrung aus den Kriegsjahren und der Zeit danach verfügte, dass er auch in solchen Krisen als Seelsorger Beistand und Stütze sein konnte? Oder lag es daran, dass Militärseelsorge gerade dann trägt, wenn Soldaten an ihre Grenzen stoßen - und das ganz selbstverständlich und ohne viel Aufhebens?
Dr. Monica Sinderhauf
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