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Gemeinwohl

Dr. Matthias Gillner, Dozent für Katholische Sozialethik an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg
In der öffentlichen Arena ist die Rede vom Gemeinwohl beliebt, obwohl sie beim Bürger oft Misstrauen hervorruft. Aber Argwohn gegenüber der Forderung, Einzelinteressen dem Wohl des Ganzen unterzuordnen, ist auch berechtigt. Die nationalsozialistische Parole "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" hat einst zahllose Verbrechen gegen Minderheiten und Andersdenkende "gerechtfertigt". Und heute dient die Berufung auf eine eher vage Vorstellung vom Gemeinwohl allzu häufig der rhetorischen Verschleierung bloß partikularer Interessen. Doch zum Missbrauch einladende begriffliche Unklarheit begründet keine Verabschiedung der Idee; sie verlangt aber allemal eine präzisere Bestimmung ihres Gehalts und eine schärfere Abgrenzung von Geltungsbereichen.

Prinzip der katholischen Soziallehre

In der klassischen katholischen Soziallehre spielt die Orientierung am Gemeinwohl eine zentrale Rolle. Als Sozialprinzip wird es gegen Individual- wie Gruppeninteressen ins Feld geführt, als normatives Kriterium soll es die Interessenkonflikte in einer gemeinsamen staatlichen Ordnung moralverträglich regulieren. Auf der Ebene internationaler Beziehungen wird das global ausgeweitete (Welt-) Gemeinwohl zum Maßstab einer Weltfriedensordnung, das nationalstaatliche Interessen in ethischer Perspektive begrenzt.

Gemeinschaft und Gesellschaft

Schon bei Aristoteles gebührt dem Ganzen ein naturgemäßer Vorrang vor dem Teil: das politische Gemeinwesen vor der häuslichen Gemeinschaft und vor jedem Einzelnen. Als von Natur aus politisches Wesen wird der Mensch in der Sorge um das Gemeinwohl seiner natürlichen Bestimmung gerecht. Bei Thomas von Aquin wird das antike politische Verständnis theologisch überhöht, insofern in der von Gott gewollten Vollkommenheit des Ganzen das Wohl des Einzelnen fundiert ist. Doch der scholastisch geprägte Begriff begründet auch den Verdacht seiner Untauglichkeit unter modernen Bedingungen pluraler Gesellschaften und demokratisch verfasster Staaten. Sowohl die antike ‚Polis' als auch die mittelalterliche ‚Civitas' stellen eine alle Sozialbeziehungen durchdringende gemeinschaftliche Lebensordnung dar: Die Beanspruchung eines überzeitlich gültigen Ordnungsideals schreibt allen vor, worin sie ihr Wohl zu suchen haben.

Gemeinwohl und Gerechtigkeit

In der neueren katholischen Soziallehre trägt die begriffliche Trennung von ‚Gemeingut' (materialer Wertinhalt) vom ‚Gemeinwohl' (organisatorischer Wert) dem Faktum des gesellschaftlichen Pluralismus Rechnung. Der formale Restinhalt, worunter "die Gesamtheit jener gesellschaftlichen Bedingungen" verstanden wird, "die einer Person ein menschenwürdiges Leben ermöglichen" (Die deutschen Bischöfe, Gerechter Friede: 62) bleibt aber doch zu weit gefasst. Plausibel erscheint deshalb der Versuch einer begrifflichen "Aufgabenteilung". Thema der ‚Gerechtigkeit' sind demnach die für alle sozialen Ordnungen strikt einzufordernden moralischen Standards, konkret: die Garantie der Menschenrechte, die Gewährleistung der Chancengleichheit und die Einhaltung bestimmter Regeln der Vermögensverteilung.

Diesen Gerechtigkeitsdiskurs im engeren Sinne ergänzen Gemeinwohlüberlegungen: Die Suche nach dem allgemeinen Besten, der sozialen Identität, die Beantwortung der Fragen, welche Werte sollen geschützt, welche Lebensformen kultiviert werden, braucht eine eigene Erwägungsform und besondere Maßstäbe. Ob der Sonntag als arbeitsfreier Tag erhalten bleiben oder die Kultur mit öffentlichen Geldern gefördert werden soll - in den Antworten kultiviert sich eine Idee vom Gemeinwohl; sie verkörpert eine "angemessene Zusammenfassung der überwiegend geteilten und reflektierten Werthaltungen und Interessen der beteiligten Personen" (Koller, Das Konzept Gemeinwohl, ZiF-Mitteilungen, 3/2002: 13) - freilich im Rahmen der durch das Erfordernis der Gerechtigkeit gesteckten Grenzen.

Dr. Matthias Gillner
Dozent für Katholische Sozialethik an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg