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Alter Wein in neuen Schläuchen?

Oberstleutnant Paul Brochhagen, Bundesvorsitzender der Gemeinschaft Katholischer Soldaten (GKS)
Wie ist die Neufassung der ZDv 10/1 einzuordnen? Notwendige Reaktion auf eine Krise der Inneren Führung durch Folter-Vorwürfe in Coesfeld, die abscheulichen "Schädel-Fotos" aus Afghanistan und das bemerkenswerte Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes zum Thema "Gewissen und Gehorsam" oder purer Aktionismus zur Beruhigung der medialen Öffentlichkeit?

Ein Indiz für den Ernst der Lage ist die Tatsache, dass sich die katholischen Deutschen Bischöfe im November 2005 veranlasst sahen, ihrer Sorge um die innere Lage der Bundeswehr in dem Bischofswort "Soldaten als Diener des Friedens. Erklärung zur Stellung und Aufgabe der Bundeswehr" Ausdruck zu verleihen. Ein einmaliger Vorgang.

Wenn ich den gegenwärtigen Zustand der Inneren Führung kommentiere, betrifft dies einen Kern-bereich unserer Arbeit, weil sich die GKS als Anwältin und Hüterin der Inneren Führung versteht - so im neuen Grundsatzprogramm nachzulesen - und immer wieder zu berufsethischen Fragen zu Wort gemeldet hat.

Sind also die genannten Ereignisse Symptome einer akuten Krise der Inneren Führung und was kann eine Neufassung der Dienstvorschrift bewirken? Um die Antwort auf den ersten Teil der Frage vorweg zu geben: Nein, ich sehe keine akute Krise, aber - um im medizinischen Jargon zu bleiben - einige chronische Blessuren, die schmerzen und behindern.

1. Die bei der Integration der Nationalen Volksarmee (NVA) erfolgreiche "Armee der Einheit" konnte den Paradigmenwechsel von der Verteidigungs- zur Interventionsarmee auch wegen der ausgebliebenen verfassungsrechtlichen Verankerung noch nicht vollständig bewältigen.

Weiter zurückliegende Schlüsselereignisse wie z. B. die Konfrontation zwischen Luftwaffenpiloten und dem Bundesminister der Verteidigung während des ersten Golfkrieges im türkischen Erhac und die Frage nach der "Geschäftsgrundlage" des soldatischen Dienstes wurden nicht ausdiskutiert, wie es den Staatsbürgern in Uniform zugestanden hätte. Vielmehr wurde meines Erachtens eine "Schweigespirale" (Elisabeth Noelle-Neumann) in Gang gesetzt, die seitdem eine offene Debatte in der Bundeswehr erschwert. So kann Innere Führung als Legitimationskonzept nicht lebendig werden.

2. Der Durchschnitts-Staatsbürger in Uniform ist durch die Komplexität der politischen Zusammenhänge genauso überfordert wie der "Mann auf der Straße". Die hohen Anforderungen durch Transformation und Einsatz verdrängen die Durchführung der mehr denn je nötigen politischen Bildung; eine tragende Säule des Motivationskonzeptes Innere Führung gerät ins Wanken.

Sicher, hinsichtlich des geschichtlichen und politischen Grundwissens ist die Bundeswehr Spiegelbild der Gesellschaft. Damit darf sich die Bundeswehr aber nicht zufrieden geben! Ich stimme dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages ausdrücklich zu, der vom Soldaten ein Mehr an politischer und ethischer Bildung verlangt. Wenngleich nicht zu verkennen ist, dass individuelle Grundfertigkeiten überlebens-notwendig sind, erscheint das Argument "keine Zeit" für die zum Beispiel vielerorts immer noch ausgebliebene Verarbeitung des o. a. Bundesverwaltungsgerichtsurteils wenig überzeugend.

Trotz der genannten Defizite sehe ich gegenwärtig keine Indizien dafür, dass die Errungenschaften der Inneren Führung den obwaltenden Verhältnissen bei multinationalen Einsätzen zum Opfer fal-len. Innere Führung ist als Führungsphilosophie der neuen deutschen Streitkräfte zur verinnerlich-ten Führungskultur geworden und für die überwiegende Zahl der Vorgesetzten steht der Mensch im Mittelpunkt ihres Führungsverhaltens.

Nun zur Beantwortung des zweiten Teils der Frage: Was kann eine neue Dienstvorschrift bewirken? Eine neue Verpackung allein wird die genannten Defizite nicht beseitigen können, dazu bedarf es des starken politischen Willens und mutiger militärischer Führerschaft mit offenem Visier. Sie kann aber mit den neuen Akzenten Schwung entfalten und der Politischen und Ethischen Bildung das zustehende Gewicht sichern. So bleibt der gute, alte Wein in neuen Schläuchen länger haltbar (vgl. Mt 9,17).

Paul Brochhagen, Oberstleutnant