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"Mit Verfassungspatrioten, die sich in der Stunde der Gefährdung aus dem Staub machen, ist kein freiheitlich demokratischer Rechtsstaat auf Dauer zu bewahren."

Prof. Dr. Otto Depenheuer, Lehrstuhl für Staatsphilosophie und Rechtspolitik an der Universität Köln
Kompass: Herr Prof. Dr. Depenheuer: Ist zur Abwehr einer Bedrohung durch den internationalen Terrorismus alles gestattet, was der Sicherheit der Bevölkerung dient, oder sehen sie Grenzen, die es einzuhalten gilt?

Prof. Otto Depenheuer: Es gehört zu den bedeutenden und unaufgebbaren Errungenschaften des Rechtsstaates, dass prinzipiell kein Zweck die Mittel heiligt. Was immer der Staat zur Abwehr der terroristischen Bedrohung glaubt tun zu müssen, er darf nicht gegen Gesetz und Verfassung verstoßen. Freilich gerät der freiheitliche Staat im Kampf gegen den Terrorismus dadurch in eine strukturelle rechtliche Asymmetrie, die Risiken in sich birgt: Der an das Recht gebundene Staat muss sich gegen den das Recht verachtenden Feind behaupten. Darin liegt eine große Herausforderung für die Selbstbehauptungsfähigkeit des Staates und seiner Bürger: Diese müssen sich in einer Demokratie öffentlich darüber vergewissern, ob und welche Freiheitsbeschränkungen sie sich um ihrer Sicherheit willen zuzumuten bereit sind.

Kompass: Nun stellt sich in diesem Zusammenhang natürlich die Frage, was im Zweifel Vorrang hat: Sicherheit oder Freiheit. Wie verhalten sich Freiheit und Sicherheit unter den Bedingungen einer veränderten Bedrohungslage nach dem 11. September 2001 zueinander?

Prof. Otto Depenheuer: Im Prinzip nicht anders als vorher auch. Nur rückt in Zeiten einer terroristischen Bedrohungslage naturgemäß der Sicherheitsaspekt in den Vordergrund. Angesichts der veränderten Bedrohungslage muss das Verhältnis beider Werte neu austariert werden. Das ist in einer Demokratie vornehmlich die Aufgabe und Pflicht des demokratisch legitimierten Parlaments und jedenfalls nicht in erster Linie des Bundesverfassungsgerichts. Dieses soll eine angemessene Sicherheitspolitik weder verhindern noch selbst betreiben, sondern nur die demokratisch beschlossene in verfassungskonformen Bahnen halten.

Kompass: In Ihren Überlegungen sind Terroristen keine kriminellen Straftäter, sondern Feinde. Egal, ob nun Feind oder krimineller Straftäter - unterliegen nicht beide dem verfassungsrechtlichen Gebot der Menschenwürde?

Prof. Otto Depenheuer: Straftäter, Terroristen und Feinde sind Menschen und deswegen kommt ihnen die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes uneingeschränkt zugute. Das ist völlig unstreitig.

Kompass: Warum dann eine eigene Rechtsfigur "Feind"?

Prof. Otto Depenheuer: Die Kategorie des Feindes bringt ein uraltes Phänomen auf den Begriff, das aber dank der insofern weithin sorglosen Nachkriegszeit in Vergessenheit geraten ist. Der Begriff des Feindes ist zu unterscheiden von dem des Bürgers. Die Rechtsordnung vertraut dem Bürger prinzipiell, denn dieser identifiziert sich mit der Rechtsordnung seines Staates, weswegen er ein Fehlverhalten auch regelmäßig zu leugnen oder zu rechtfertigen sucht. Deswegen nimmt die Staatsgewalt den Bürger deshalb nur dann näher ins Visier, wenn er durch sein Verhalten dazu Anlass gibt: durch eine Straftat oder eine Störung der öffentlichen Sicherheit. Der Feind hingegen lehnt die politische und rechtliche Ordnung prinzipiell ab, will sie um seiner politischen oder religiösen Ziele willen durch Terror verunsichern, schwächen und zerstören. Indem wir den Terroristen als Feind identifizieren, nehmen wir ihn in seiner Überzeugung ernst: Wir teilen diese zwar nicht, haben gar physische Angst vor ihm, und doch können wir seine Motive nachvollziehen und insoweit sogar achten. Ungeachtet dessen aber bleibt er als Feind eine Gefahr für das Gemeinwesen und seine Bürger. Auf seine prinzipielle Rechtstreue und Gewaltlosigkeit kann man gerade nicht vertrauen. Das bedingt ein Konzept der Gefahrenabwehr, um das derzeit im politischen Raum streitig gerungen wird. Dabei wird freilich der Begriff "Feind" peinlichst vermieden und deshalb das Problem im Ansatz systematisch verfehlt angegangen: Statt mit Gefahrenabwehrrecht sucht man dem Feind mit dem Strafrecht beizukommen, z. B. §§ 129 f. StGB. Scharfsinnige Beobachter haben diesen falschen Ansatz zutreffend als "Feindstrafrecht" bezeichnet - zum Entsetzen von Wissenschaft und Politik, die dieses Feindstrafrecht praktizieren, sich über den Begriff aber echauffieren.

Kompass: Welches sind Ihrer Auffassung nach die rechtfertigenden Gründe für ein Bürgeropfer, welches Sie beispielsweise unschuldigen Passagieren abverlangen, die in entführten Flugzeugen in der Gewalt von Terroristen sind und abgeschossen werden sollen?

Prof. Otto Depenheuer: Der Mensch lebt nicht allein für sich - er könnte es nicht einmal -, sondern in Gemeinschaften: Familie und Staat sind seit alters her die zentralen Gemeinschaften, in denen Menschen aufwachsen, die sie prägen und tragen - ideell und materiell. Nun gehört es zum Wesensmerkmal auch von freiheitlichen Gemeinschaften, dass sie dem einzelnen zwar ein Leben in Selbstbestimmung ermöglichen, dass sie aber auch auf seine Solidarität angewiesen sind: alle für einen, einer für alle. Das ist eine schlechthinnige Selbstverständlichkeit, deren Notwendigkeit heute konstitutiv begründen zu müssen schon erstaunlich genug und einem individualistischen Hedonismus geschuldet ist, der die Bedingungen seiner freiheitlichen Existenz nicht mehr zu denken weiß. Im extremen Notfall kann diese Solidarpflichtigkeit des Einzelnen auch dazu führen, dass er "Leib und Leben" für die Gemeinschaft hingeben muss, damit diese fortbestehen kann. Darüber sind sich übrigens alle Staatstheoretiker der Neuzeit einig. Nur in Deutschland haben 60 Jahre Wohlstand und Frieden das Bewusstsein dafür offensichtlich nachhaltig getrübt, dass unser Staat und seine freiheitliche Rechtsstaatlichkeit Bürger bedürfen, die ihm in kritischen Zeiten beistehen und ihn nicht im Stich lassen, wenn es ernst wird. Mit Verfassungspatrioten, die sich in der Stunde der Gefährdung aus dem Staube machen, ist kein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat auf Dauer zu bewahren. Dazu braucht es vielmehr Bürger, deren Solidarität sich nicht in Worten erschöpft, sondern in letzter Konsequenz auch in Opferbereitschaft zeigt.

Das Interview führte Josef König.