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Chinas Weg ins 21. Jahrhundert

Die Entwicklung im gegenwärtigen China lässt sich eher mit dem Begriff Pluralisierung kennzeichnen

Müllsammler in Peking vor einem Werbeplakat mit dem Motto der Olympiade 2008
von Prof. Dr. Thomas Heberer, Lehrstuhl Politikwissenschaft an der Universität Duisburg/Essen, Schwerpunkt Politik Ostasiens

Die Olympiade wird an den gegenwärtigen Strukturen und Verhältnissen nur wenig ändern, Sie wurde an China vergeben, weil man dem chinesischen Bemühen nach Öffnung, Wandel und Anerkennung in der Welt Rechnung tragen wollte. Dass die Menschenrechte zur Zeit der Vergabe Probleme aufwiesen, war damals schon bekannt. Die Politik, nicht der Sport, ist der Aufgabe, China rechtzeitig an sein Versprechen der Verbesserung der Menschenrechte zu erinnern, nur ungenügend nachgekommen. Was die Politik versäumt hat, können die Sportler nicht nachholen. Friedliche und erfolgreiche Spiele werden die moderaten Politiker stärken, die in China durch die weltweiten Tibet-Proteste zeitweilig in den Hintergrund gedrängt wurden. Von daher können die Spiele vielleicht doch noch ein nachträgliches Veränderungspotenzial entwickeln.

Gerade einmal drei Jahrzehnte sind seit dem Ende der Mao-Ära vergangen. Die politischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Kosten dieser Ära waren gewaltig. Maos politisches Konzept führte zu großen menschlichen und intellektuellen Opfern. Allein der "Große Sprung nach vorn" 1958-60, der zur schlimmsten Hungerkatastrophe in der Geschichte der Menschheit führte, kostete ca. 30 Mio. Menschen das Leben. Politisch gesehen hatte China sich zu einem totalitären Staat entwickelt, in dem das Monopol einer Partei, einer Ideologie und die Geheimpolizei das Leben bestimmten. Raum für Privatheit gab es kaum, ein Klima der Angst herrschte vor. Die Menschen, vor allem auch die Intellektuellen, waren angepasst und eingeschüchtert, Eigeninitiative und Kreativität gelähmt worden. Ökonomisch gesehen war der Privatsektor weitgehend beseitigt, Landwirtschaft und Konsumgüterindustrie waren vernachlässigt. Die Lebensbedingungen der Bevölkerung hatten sich nur geringfügig verbessert.

Selbst nach offiziellen chinesischen Angaben lebten Ende der 70er Jahre weit über 150 Mio. Menschen unterhalb des Existenzminimums. Es mangelte an allem, die wichtigsten Güter des täglichen Bedarfs waren rationiert. Bildung und Ausbildung waren rein politischen Zwecken unterworfen worden, so dass dringend benötigte Fachkräfte fehlten. Die Abkopplung vom Weltmarkt ("Vertrauen auf die eigene Kraft") hatte die Isolation des Systems und die Perpetuierung von Armut noch verstärkt.

Die Ende der 70er Jahre eingeleitete Reform- und Modernisierungspolitik führte nicht nur zu einer erstaunlichen Wirtschaftsentwicklung, sondern setzte auch einen umfassenden Prozess sozialen und politischen Wandels in Gang. Kernkomponenten dieses Prozesses sind:

- die Herausbildung marktwirtschaftlicher Strukturen
- eine Diversifizierung des Eigentumssystems mit dem Schwerpunkt Privatwirtschaft
- die Entstehung neuer Schichten und Eliten
- die Ökonomisierung von Politik
- ein Werte- und Einstellungswandel
- neue Formen gesellschaftlicher Organisation
- Wanderungsbewegungen der ländlichen Bevölkerung (Migration)

2.008 freiwillige Helfer formen in Shenyang die Olympischen Ringe. Dort werden Spiele des Fußballturniers stattfinden
Ideologische Prioritäten wichen einem politischen Pragmatismus. Dieser Pragmatismus weist gegenwärtig vier Spezifika auf:

(1) In der ökonomischen Sphäre zeigt er sich u. a. an der erfolgreichen Transformation von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft und an der Ökonomisierung von Politik ohne gleichzeitigen Wechsel des politischen Systems.

(2) Politisch gesehen hat sich die Kommunistische Partei von einer Klassen- zu einer Volkspartei gewandelt. Dies verdeutlicht nicht nur die soziale Zusammensetzung, wobei der Prozentsatz der Arbeiter und Bauern seit den 80er Jahren signifikant ab-, der Anteil der Professionals und Beamten hingegen deutlich zunimmt; unterstrichen wird dies auch durch die o. g. Formel der "Drei Vertretungen", die u. a. besagt, dass die KP nicht mehr Klassen, sondern das gesamte chinesische Volk repräsentiert.

(3) Ideologisch gesehen wurde der Marxismus-Leninismus zuerst "sinisiert", d. h. an die praktischen Problemkonstellationen und die politische Kultur Chinas angepasst. In den 90er Jahren wurde das Ideologiegebäude dann durch die "Deng-Xiaoping-Theorie" ergänzt. Die Letztere stellt indessen keine "Theorie" dar, sondern einen Satz praktischer Handlungsanweisungen. Ende 2004 wurde dann ein neues Ziel aufgestellt: das der Schaffung einer "harmonischen Gesellschaft", das an die Stelle der Errichtung einer "kommunistischen Gesellschaft" trat und als kultureller Code den Menschen in China mehr sagt als eine abstrakte kommunistische Gesellschaft.

(4) Die Legitimität des Systems basiert nicht mehr auf einer einzelnen Ideologie, sondern wird funktional begründet: mit dem Versprechen, Entwicklung, Modernisierung und nationale Stärke zu realisieren, politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität sicherzustellen und Schaffung einer "sozialistischen Demokratie" und einer "Rechtsherrschaft".

Die Probleme und Konflikte, die sich im Zuge des Umbauprozesses in China auftun, sind gewaltig. Korruption, Auseinanderentwicklung der Einkommen zwischen Stadt und Land, zwischen verschiedenen Schichten und Regionen, frühkapitalistische Regellosigkeit zählen zu den wichtigsten Konfliktlinien. Eine Sprengkraft ist entstanden, die für Staat und Gesellschaft bedrohlich wirkt. Die Menschen wünschen sich in erster Linie soziale und politische Stabilität, eine weitere Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und graduelle Rechtssicherheit. Zum Teil mit harter Hand versucht der Staat diese Stabilität aufrecht zu erhalten. Er weiß sich dabei im Einklang mit der Bevölkerungsmehrheit, die diese Politik unterstützt.

Obergefreite Julia Rohde (Gewichtheben) von der Sportfördergruppe Bruchsal beim Tag der Offenen Tür im Berliner Bendlerblock
Ein Demokratisierungsprozess im Sinne der Herausbildung demokratischer Institutionen und Strukturen (Gewaltenteilung, Mehrparteiensystem, Rechtssicherheit usw.) findet von daher noch nicht statt. Dazu bedarf es wohl auch erst spezifischer Voraussetzungen wie "zivilisatorischer Kompetenz", d.h. einen Bezug der Menschen auf die Gesellschaft statt auf Gruppeninteressen, die Akzeptanz anderer Meinungen und das Erlernen friedlicher Muster der Konfliktlösung durch Staat und Gesellschaft. Bis dahin ist in China noch ein weiter Weg zurückzulegen. Die Entwicklung im gegenwärtigen China lässt sich eher mit dem Begriff der Pluralisierung kennzeichnen.

Pluralisierung bezieht sich hier auf die wachsende Vielfalt von Aktionsmöglichkeiten für Individuen, Gruppen und Organisationen außerhalb der Kontrolle von Partei und Staat, bezieht sich auf wirtschaftliche Tätigkeiten, aber auch auf erheblich gestiegene individuelle Entfaltungsmöglichkeiten. Das System bindet die Menschen nicht mehr rein organisatorisch in seine Strukturen ein, sondern erlaubt den Exit, d.h. das Zurückziehen in private Bereiche, sei es in Form selbstständiger Wirtschaftstätigkeit, der Migration, der Ausreise ins Ausland.

Gleichzeitig gibt es eine Vielfalt von Möglichkeiten politischer Artikulation in der wissenschaftlichen Diskussion. In den akademischen Journalen findet seit Jahren eine Auseinandersetzung auch über sensitive Fragen statt, wie über Menschenrechte, Demokratisierung und Mehrparteiensystem, auch wenn dabei "China" als solches nicht immer erwähnt wird. Solange bestimmte Grenzen und Tabus (wie das der Infragestellung der Herrschaft der KP) nicht verletzt werden und die Diskussion sich an eine spezifische Symbolik hält, werden solche Diskurse durchaus toleriert. Zudem wird die Eingrenzung individueller, auch politischer Meinungsäußerungen durch Staat und Partei immer schwieriger.


Chinesische Schüler/innen feiern die Entzündung der olympischen Fackel
Der sich immer mehr verbreitende Zugang zum Internet und zu Informationen über das Ausland fördert die Pluralisierung, belegt zugleich aber, dass Teile der Führung eine neue Stufe der Öffnung wünschen, wenn und insofern die Herrschaft der Partei nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. Auch äußere Faktoren beeinflussen den Pluralisierungsprozess. Die Mehrheit der Parteiführung hat durchaus erkannt, dass eine rationale und effiziente ökonomische Entwicklung begleitende politische Strukturreformen, Rechtssicherheit und rechtliche Institutionalisierung erfordert. Auf ein solches Nachdenken weisen nicht nur die Liberalisierung der Diskussion über politische Reformen, die Tolerierung von Büchern, die sich kritisch mit den politischen Strukturen Chinas auseinandersetzen sowie Aufträge an chinesische "think tanks" hin, sich mit alternativen politischen Konzepten zu beschäftigen, sondern auch ganz praktische Bemühungen, wie die landesweite Durchsetzung "demokratischer Wahl" der Dorf- und Wohnviertelleitungen.

Doch wie steht es mit der Frage der Menschenrechte? Die politische Führung Chinas stellt den "individuellen westlichen" häufig die "kollektiven" Menschenrechte gegenüber. Die Sicherung des Existenzminimums müsste in einem Entwicklungsland Vorrang vor individuellen Rechten genießen. Zweifelsohne bedarf die Absicherung sozialer oder auch bestimmter politischer Rechte gewisser materieller Voraussetzungen. Denn erst diese schaffen objektive Bedingungen für eine bessere Gewährleistung sowohl individueller als auch kollektiver Menschenrechte. Doch hohe Wachstumsraten oder eine Entwicklung, die Wohlstand nur für eine Minderheit bringt oder auf Kosten von Bevölkerungsgruppen oder Regionen geht, bringen nicht automatisch soziale Rechte. Das Recht auf Entwicklung und soziale Rechte müssen vielmehr die materiellen Voraussetzungen dafür schaffen, dass die persönlichen Rechte realisiert werden können.

Vier Soldatinnen der Deutschen Frauenfußball-Nationalmannschaft (von links): HFw Silke Rottenberg, Uffz Conny Pohlers, OFw Kerstin Stegemann und HG Martina Müller

Eine Prognose, wohin sich China in den kommenden Jahrzehnten entwickeln wird, ist ausgesprochen schwierig. Letztlich hängt dies primär von der inneren Entwicklung ab. Solange sich die Wirtschaft weiter erfolgreich entwickelt, der Lebensstandard der Mehrheit der Bevölkerung wächst, der Grad an Partizipation zunimmt und gesellschaftliche und politische Stabilität gewährleistet werden können, kann sich China zu einem zuverlässigen und berechenbaren Partner auch in der internationalen Politik entwickeln. Sollte dies scheitern, dann wären die Folgen für China, seine Bewohner und nicht zuletzt für die gesamte Welt dramatisch.

Prof. Dr. Thomas Heberer
Lehrstuhl Politikwissenschaft an der Universität Duisburg/Essen
Schwerpunkt Politik Ostasiens