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Die Goldene Regel | Klaus Ebeling,
Projektleiter Ethik,
Sozialwissenschaftliches
Institut der
Bundeswehr | Es ist gar nicht klug, nur an sich zu denken. Gut leben, ja, auch nur überleben kann jeder und jede nur zusammen mit anderen. Diese Einsicht ist trivial, sie lebensklug zu praktizieren aber leider nicht. Ähnlich verhält es sich auch mit jener Forderung, die seit alters in den verschiedensten Kulturen dem Faktum mitmenschlicher Verbundenheit eine verbindliche Gestalt vorzeichnet: die (allerdings erst seit dem 18. Jh. so bezeichnete) „Goldene Regel“. Einerseits wird sie mit Fug und Recht, wie z. B. in dem von Kofi Annan initiierten Manifest „Crossing the Divide“ zum UN-Jahr des Dialogs der Kulturen 2001, als großer gemeinsamer Wert der Menschheit herausgestellt, weil sie „das Wahrnehmen, die Anerkennung, die Annahme und die Hochschätzung des anderen als Bestandteil unseres eigenen Selbstverständnisses“ fordert und uns dabei hilft, „zu lernen, wie man menschlich ist“ (dt.: „Brücken in die Zukunft“, 2001: 85). Andererseits ist jedoch auch seit jeher umstritten, ob sie denn, wenn schon kein zureichender Maßstab für das Gute, dann doch wenigstens eine hinreichende Bestimmung der formalen Struktur mitmenschlicher Gerechtigkeit sein könne.
Kluges Selbstinteresse und moralischer Respekt
Es gibt zwei Grundversionen der "Goldene Regel" Ein Sprichwort bietet die wohl populärste negative Fassung: „Was du nicht willst, dass man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu!“ Ins Positive gewendet findet sie sich bei Matthäus: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen“ (7,12; vgl. Lk 6,31). Keine Frage: Mit dieser Aufforderung wird die Vergeltungslogik des „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ überwunden, der Gedanke wechselseitiger Anerkennung substanziell erweitert. Aber konstituiert die kluge Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse anderer, die Bereitschaft zum befriedenden Ausgleich zwischen Geben und Nehmen, Leistung und Gegenleistung auch schon ein dezidiert moralisches Anerkennungsverhältnis? Wohl kaum – es sei denn, man beschränkt die moralische Perspektive grundsätzlich auf diejenige eines „wohlverstandenen Eigeninteresses“.
Moralkriterium und Liebesgebot
Das Neue Testament gibt der positiv formulierten Regelversion eine anspruchsvollere Bedeutung. Im Kontext der Bergpredigt bzw. Feldrede, d. h. konkret: im Kontext von Liebesgeboten, die, wie das Gebot der Feindesliebe (Lk 6,27–30), rechnende Denk- und Verhaltensweisen überbieten, erscheint die Regel (Mt 7,12 ausdrücklich bezogen auf das „Gesetz [Gottes] und die Propheten“) als Summe einer „neuen Gerechtigkeit“, die in der Nachfolge Jesu jeden anderen vorbehaltlos gerade auch in seiner Andersheit anzunehmen fordert; die „erstinitiatives Handeln“ fordert, das sich gerade nicht „an der faktischen Gegenliebe des anderen“ orientiert, sondern vielmehr „ein idealerweise wünschenswertes Verhalten zum Ausgang nimmt“ (Schockenhoff, Grundlegung der Ethik, 2007: 296).
Begriffliche Präzisierung
Neben kontextuellen „Präzisierungen“ wie der biblischen finden in der jüngeren philosophischen Diskussion auch im engeren Sinne begriffliche Überlegungen wieder größere Beachtung. Ihnen stehen u. a. die wirkmächtigen Einwände Kants im Weg. Anders als sein „kategorischer Imperativ“ – „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (Kritik der prakt. Vernunft, Akad.-Ausg.: 54; vgl. auch die „Person-Selbstzweck-Formel“ in der Grundlegung z. Metaphysik d. Sitten, Akad.-Ausg.: 429] – könne die "Goldene Regel" kein allgemeines Gesetz sein (a. a. O.: 430, Anm.), weil sie weder den Grund der „Pflichten gegen sich selbst“ noch der „Liebespflichten gegen andere“ (z. B. bei Menschen mit exzentrischen Wünschen) noch der „schuldigen Pflichten gegeneinander“ (z. B. im Falle eines gegen den strafenden Richter argumentierenden Verbrechers) enthalte.
Eine dementsprechend korrigierte, verallgemeinerte Fassung der "Goldene Regel" sei abschließend zitiert (Hoche, Hist. Wörterbuch d. Philos., Bd. 8, 1992: 461): „Wenn ich will, dass niemand in einer Situation von der und der Art soundso handelt, dann bin ich moralisch verpflichtet, in einer Situation von der und der Art nicht soundso zu handeln“. Die LeserInnen mögen prüfen, ob sie denn hält, was sie verspricht.
Klaus Ebeling
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