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Mitleid

Klaus Ebeling, Projektleiter Ethik, Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr
Nimmt man die noch immer populäre Attitüde vieler Soziobiologen und Evolutionspsychologen für bare Münze, ist Mitleid, von naturdummen Fehlleistungen abgesehen, letztlich „nichts anderes als“ eine verkappt egoistische Verhaltensweise. Zweifel am Wert dieser Münze bzw. am bioökonomischen Kalkül ihrer Produzenten äußern allerdings nicht bloß die üblichen Verdächtigen, die Philosophen und Theologen, sondern auch Naturwissenschaftler. Mit beträchtlicher öffentlicher Resonanz problematisieren neuere Publikationen z. B. zur Primaten- (Frans de Waal), Gen- (Joachim Bauer) oder Hirnforschung (Vittorio Gallese) sozialdarwinistische Vor-Urteile, die als sich selbst erfüllende Prophezeiungen vermeintlich weltanschaulich neutrale wissenschaftliche Arbeiten durchherrschen und deren Befunde amoralisch vereindeutigen. Dem offenen Blick jedoch zeigt sich die menschliche Existenz - auch im Falle von Mitleid (und Mitfreude!) - als moralisch vieldeutig zerklüftete Landschaft.

Mitleid: nur ein natürlicher Impuls?

Menschliches Mitleid hat eine evolutionäre Wurzel in der Fähigkeit, sich einzufühlen in das Verhalten anderer; sie verbindet uns mit höheren Tieren. Aus ihr haben sich dann bereits in der menschlichen Frühgeschichte, auf der Basis der voll entfalteten Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, mitfühlende Verhaltensweisen ausgeprägt, deren Nützlichkeit für Individuen wie Gesellschaften aber wesentlich auch dadurch bedingt ist, dass bzw. insofern sie eben nicht bloß (!) „egoistisch“ kodiert sind.
Die unvermittelt natürliche Motivationskraft des Mitleids hat in der Tradition ethischer Reflexion zu unterschiedlichen Bewertungen geführt. Abgesehen von seiner Denunziation als Aufwertung des schwächlichen Lebens (Nietzsche) wird es einerseits als zentrale Instanz der Moral gerade deshalb hochgeschätzt, weil es ein aller Reflexion vorausliegendes, universell wirkmächtiges Gefühl sei (z. B. Hume, Rousseau); Schopenhauer bezeichnet es gar als „allein ächt moralische Triebfeder“. Andererseits weckt der Affektcharakter auch Skepsis und Misstrauen. So warnt etwa schon die antike Stoa vor einer Unvereinbarkeit dieses Affekts mit dem ethischen Anspruch einer vernünftigen Lebensführung. Auch für Kant taugt es deshalb nicht zum Bestimmungsgrund moralischen Handelns. Insofern er sie gleichwohl als unterstützende Triebfeder der Moral achtet, bewegt er sich allerdings auf einer vermittelnden Bahn zwischen den Extremen. Auf ihr sind viele bedeutende Ethiker zu verorten, die einen bloß natürlichen Mitleidsaffekt (commiseratio) von der Tugend der Barmherzigkeit (misericordia) abheben, bei der das gefühlsmäßige mit dem vernünftigen Streben zusammenstimmt: Mitleid erscheint vernünftig, sofern die helfende Tat die Gerechtigkeit wahrt (Thomas v. Aquin) oder die Unmenschlichkeit mildernde Tat nicht deren Rahmenbedingungen stabilisiert (Adorno) etc.

Mitleid: nur mit den Nächsten?

Vielen gilt zusammen mit der Gerechtigkeit die Tugend des Wohlwollens (und als ihr zentrales Element auch das Mitleid) als Inbegriff einer sittlichen Haltung im zwischenmenschlichen Bereich. Aber - was gilt jenseits des ethischen Nahbereichs? Es mag vielleicht überraschen, dass ausgerechnet ein besonders anrührendes Wort zur Nächstenliebe, Jesu Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) den entscheidenden Grund für deren universelle Perspektive benennt. Der Samariter sieht den unter die Räuber gefallenen Mann - und hilft, ohne zu fragen, wer oder was er ist: die Situation bestimmt ihm einen Fremden zum Nächsten, und er tut, was er kann. Er meint den Leidenden als Leidenden. Mitleid ist, so verstanden, ein ganz auf die bedürftige Person konzentriertes, zugleich aber - wie übrigens auch das radikale Gegenteil: die Grausamkeit - ein von persönlichen Bedingungen entschränktes Verhalten.

Zwei Fragen zum Schluss, zu einer zu häufig geäußerten Bemerkung: „Bitte - kein Mitleid!“ Warum gelingt es so oft nicht, Mitleid von entmündigendem Machtstreben freizuhalten? Und: Was macht jene auf Stärke und Tauschsymmetrie gepolten Selbstbilder so attraktiv, dass unerträglich erscheinen muss, was wir alle sind: schwach und verwundbar?

Klaus Ebeling
Projektleiter Ethik, Sozialwissenschaftliches
Institut der Bundeswehr