25 
           

Die Kinder der Kriegskinder - die "dritte betroffene Generation"

Anne-Ev Ustorf: Wir Kinder der Kriegskinder. Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs, Herder Verlag, 2008
Viele Menschen können sich noch heute an ihre frühen Kriegserfahrungen erinnern: an Flucht, Vertreibung, Zerstörung, Bombenkrieg und Hungersnot.

Psychologische Studien haben in den letzten Jahrzehnten gezeigt, dass fast ein Drittel aller Kriegskinder - die zwischen 1927 und 1947 geborenen - durch ihre frühen Kindheitserlebnisse traumatisiert sind.

Diese seelische Erschütterung äußert sich in Depressionen, Ängsten und Schlaflosigkeit, sogenannten posttraumatischen Belastungsstörungen, die zudem gerade in dieser Generation oft unaufgearbeitet sind. Auch leiden viele an Empathie- und Beziehungsstörungen, da es in der frühen Kindheit kaum Möglichkeiten einer eigenen emotionalen Entwicklung gab.

Die Autorin Anne-Ev Ustorf geht in ihrer Veröffentlichung "Wir Kinder der Kriegskinder" allerdings der Frage auf den Grund, was all das für die Kinder der Kriegskinder, die "dritte Generation", heute ca. zwischen dreißig und fünfzig Jahre alt, bedeutet. Die Autorin, selbst Kind von Kriegskindern, hat mit vielen Nach-nach-Geborenen gesprochen und erstaunliche Parallelen und Phänomene entdeckt.

Das Stichwort in diesem Geflecht heißt "transgenerationale Weitergabe" - die Erschütterung der Eltern überträgt sich auf ihre Kinder und Kindeskinder. Daraus entstehe beispielsweise ein stark ausgeprägtes Sicherheitsdenken - oder im Gegenzug das Bedürfnis, alle Sicherheiten abgeben zu wollen. Viele klagen über einen Widerspruch zwischen Verwöhnung und psychischem Desinteresse und der ausgeprägten emotionalen Sprachlosigkeit ihrer Eltern. So wurde auch die "dritte", indirekt kriegsbetroffene Generation dazu angehalten, stets zu funktionieren und möglichst leistungsfähig und angepasst zu sein. Auch das Gefühl von Verlust, z. B. durch Flucht aus der Heimat bleibt oft für die nachkommende Generation präsent. Reflexion und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist vielen Kriegskindern bis heute fremd.

Die 1942 bis 1945 Geborenen scheinen besonders unter den Eindrücken der ersten Lebensjahre zu leiden, da - wie sich in den letzten Jahren herausgestellt hat - gerade die frühen Erfahrungen in den ersten Lebensjahren sich maßgeblich auf das Befinden auswirken. Die um 1940 geborene Personengruppe weist auch andere Auffälligkeiten auf, wie z. B. den sogenannten "späten zweiten Scheidungsgipfel", will heißen: die Trennung nach vielen Jahren Ehe, meist, wenn die Kinder aus dem Haus waren.

Die augenöffnende Erkenntnis des Buches ist, dass der Schatten des Krieges, das tabuisierte Leid und die damit einhergehende Sprachlosigkeit sich in Deutschland bis in die dritte Generation der 1955 bis 1975 Geborenen fortsetzt.

Schließlich ist das Buch Ermunterung zum Gespräch: Solange die Elterngeneration lebt, gibt es die Möglichkeit, über das Erlebte zu sprechen. Und tatsächlich eröffnet das Buch für den Leser ein ganz neues Verständnis für die Elterngeneration der Kriegskinder.

Barbara Ogrinz