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Gewalt

Dr. Matthias Gillner, Dozent für Katholische Sozialethik an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg
Auch wenn ihr wahres Gesicht oft strukturell verdeckt wird und wir selbst gern die Augen davor verschließen: Die Welt steckt voller Gewalt; sie durchdringt die menschliche Geschichte, sie ist in allen Kulturen gegenwärtig. Wer genau hinschaut, wird die vielfältigen Akte der Gewalt entdecken, mit der Menschen den Willen anderer beugen oder brechen oder gar ihr Leben vernichten. Die Opfer können physische oder psychische Gewalt erleiden. Ein Täter kann zur Befriedigung von Bedürfnissen, zur Durchsetzung von Interessen und anderer Ziele Gewalt kühl kalkulierend einsetzen. Er kann sie aber auch um ihrer selbst willen verfolgen, sich an ihr lustvoll ergötzen. In jeder Gewalt liegt eine ihr innewohnende Dynamik. Oft ruft sie noch größere und schrecklichere Gewalttaten hervor: Vergewaltigung, Folter, Mord. Am Ende kann sie auch hehre Ziele korrumpieren und sich vollends verselbstständigen. Gewalt geht aber nicht nur von handelnden Personen, Gruppen oder Staaten aus, sondern auch von politischen und ökonomischen Strukturen, von sozialen und religiösen Systemen: Verhältnisse, in denen den „Menschen vorenthalten wird, was ein menschenwürdiges Leben ausmacht, (…) sind in sich gewaltgeladen und gewaltträchtig.“ (Die deutschen Bischöfe: Gerechter Friede, 2000, 59)

Eindämmung von Gewalt

Das deutsche Wort „Gewalt“ enthält zwei unterschiedliche Bedeutungen, die in anderen Sprachen auch mit verschiedenen Begriffen ausgedrückt werden: Gewalttätigkeit und Machtausübung. Die ideengeschichtlich wirkmächtige Theorie des Gesellschaftsvertrags von Thomas Hobbes (1588–1679) verweist aber auch auf einen inneren Zusammenhang von verletzender und institutionalisierter Gewalt. Aus Furcht vor dem Krieg aller gegen alle verzichten die Menschen auf ihr „Recht“ der Gewaltausübung zu Gunsten einer staatlich monopolisierten Gewalt. Gewalt wird mit gewaltbewehrter Macht eingedämmt. Aber erst durch die Bindung an Recht und Freiheit, an die Menschenrechte (Locke) wird der staatlichen Gewalt ihre Willkür genommen. Die Fülle ihrer Macht wird durch Teilung und Trennung in Rechtsetzung, Rechtsprechung und Vollzug (Montesquieu) begrenzt, der Missbrauch erschwert. Schließlich geht in einer demokratischen Herrschaftsform die Gewalt vom Volke aus. Selbst die Durchsetzung dieser staatlichen Gewalt kann etwa durch Deeskalationsstrategien der Polizei gemindert oder durch mildere Formen des Strafvollzugs humanisiert werden. Und dennoch: durch Androhung bleibt Gewalt immer latent spürbar, im Vollzug der Verbrechensbekämpfung (nach innen) und im Verteidigungskrieg (nach außen) sogar unmittelbar erfahrbar.

Überwindung von Gewalt?

Gewalt muss aber nicht mit Gegen-Gewalt beantwortet werden, selbst wenn sie gerechtfertigt ist; man kann ihr auch mit Gewaltfreiheit begegnen. Die von Jesus in der Bergpredigt geforderte demonstrative Gewaltlosigkeit im Geist der Feindesliebe und der Versöhnung (Mt 5,38–48) zielt auf einen Bruch mit der verhängnisvollen Logik von Gewalt und Gegengewalt; sie will sich der Gewalt nicht einfach passiv oder gar feige unterwerfen, sondern sie aktiv und konstruktiv von innen her überwinden. Dabei kann Gewaltlosigkeit nicht nur als individuelles Mittel gegen personelle Gewalt, sondern auch als politische Strategie gegen kollektive Gewalt eingesetzt werden (Gandhi). Doch der Geist der Gewaltfreiheit bewahrt nicht vor moralischen Konfliktsituationen. Denn die Forderung nach Gewaltlosigkeit kann mit der Pflicht kollidieren, das bedrohte Leben anderer zu schützen. Dann kann es aus Liebe geboten sein, den Schwachen und Bedrängten notfalls auch mit Gewalt beizustehen. Dennoch bleibt auch die aus Notwehr und als Nothilfe ausgeübte Gewalt ein großes Übel.

Eine gewaltfreie Gesellschaft innerweltlich herbeiführen zu wollen, ist eine nicht selten ins Gegenteil umschlagende, gefährliche politische Utopie. Als eschatologische Hoffnung aber treibt sie den Christen jederzeit an, sich mit den Schattenseiten gewaltbewehrter Ordnungen niemals zufrieden zu geben.

Dr. Matthias Gillner