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Die Wiederbewaffnung als Preis der Westbindung

„Wir lebten damals in einer Zeit, die sich junge Soldaten von heute kaum noch vorstellen können.“

General a. D. Klaus Dieter Naumann, 1991–1996 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 1996 bis 1999 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses
Foto: privat
Kompass: Zum Zeitpunkt Ihres Eintritts in den Dienst der Bundeswehr 1958 waren die politisch-parlamentarischen Grundentscheidungen für die Wiederbewaffnung im westlichen Teil Deutschlands weitestgehend abgeschlossen. Der östliche Teil Deutschlands, damals noch als Sowjetische Besatzungszone (SBZ) bezeichnet, zog nach. Wie war Ihnen zumute, als Sie die Ausbildung im Feldartilleriebataillon 41 in Landshut begannen?

General a. D. Naumann: Wir lebten damals in einer Zeit, die sich junge Soldaten von heute kaum noch vorstellen können: Wir mussten mit einem Krieg als Folge eines Angriffs der Sowjetunion rechnen. Entsprechend wurden wir ausgebildet, hart und an den Bedingungen des Krieges orientiert, den die älteren unserer Ausbilder – ebenso wie zum Teil jahrelange Gefangenschaft – erlebt hatten. Uns wurde sehr schnell klar, dass wir uns auf einen Beruf eingelassen hatten, der das äußerste und letzte Opfer von uns verlangen könnte, aber wie junge Menschen nun einmal sind, dachten wir keineswegs ständig daran, sondern hofften auf Verbesserung der internationalen Lage.

Was uns – die Rekruten der späten fünfziger Jahre – vermutlich mit den Soldaten von heute verbindet ist, dass wir wie sie jederzeit mit einem Einsatz rechnen mussten, allerdings nicht in fernen Landen, sondern auf deutschem Boden und in einem Krieg, in dem unsere Familien in täglicher Lebensgefahr sein würden. Der Einmarsch der Sowjetunion in Ungarn 1956 lag gerade zwei Jahre zurück, das Ereignis, das mich veranlasste, meinen Traum aufzugeben, Archäologie zu studieren; und die nächste Berlin-Krise stand vor der Tür.

Dennoch waren wir weder verzagt noch ängstlich. Wir waren neugierig auf das, was auf uns zu kam, wir nahmen so manches, was heute dem Wehrbeauftragten die Haare zu Berge stehen lassen würde, recht sportlich und lernten so auch, nachhaltiger als durch jeden Unterricht, was man nicht machen sollte. Vor allem aber wollten wir zeigen, dass wir genauso gut waren wie diejenigen, die den Krieg er- und überlebt hatten.

Kompass: Woran lag es Ihrer Erinnerung nach, dass sich gegen die Wiederbewaffnung der damaligen Regierung Adenauers der Protest nicht entschiedener formierte? Oder anders gefragt: welche Grundstimmung in der westdeutschen Bevölkerung herrschte mit Blick auf die Wiederbewaffnung vor?

General a. D. Naumann: Nach meiner Erinnerung war die Wiederbewaffnung sehr wohl heftig umstritten, nicht nur zwischen den beiden großen Volksparteien. Sie war eine politische Entscheidung, die gegen eine klare Mehrheit in der Bevölkerung getroffen wurde, vergleichbar der anderen großen sicherheitspolitischen Entscheidung in den 60 Jahren Bundesrepublik Deutschland, der Entscheidung, den NATO-Doppelbeschluss zu vollziehen. Beides waren Entscheidungen, die Deutschland sicherer machten und die – im Falle des Doppelbeschlusses sogar entscheidend – wichtig für das Ende des Kalten Krieges waren.

Die Stimmung unter den Menschen gibt vielleicht die Reaktion meines Klassenlehrers auf meine Entscheidung Offizier zu werden am besten wieder. Er sagte: „Mensch, Naumann, dazu bist du nicht dumm genug!“, und fügte an, dass Adenauer gesagt hatte, dem Deutschen, der wieder ein Gewehr anfasse, solle die Hand verdorren. Diese Meinung spürten wir als junge Rekruten auch bei unseren ersten Ausgängen im schönen Landshut, wir durften nur in Uniform ausgehen, und bekamen so manche weniger freundliche Bemerkung mit auf den Weg. Dennoch begannen die Menschen einzusehen, dass die Wiederbewaffnung der Preis war, den Deutschland für die Westbindung und den Schutzschirm der USA zu zahlen hatte, und sie akzeptierten das, weil sie Angst vor der Sowjetunion hatten und im Sozialismus kein Modell für die eigene Zukunft sahen.

Kompass: Am 1. Oktober 1991 wurden Sie zum bisher jüngsten Generalinspekteur berufen. Dies war zwei Jahre nach dem Fall der Mauer in Berlin und der Öffnung der innerdeutschen Grenze. 1949 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und dann 1989 der Beginn der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands – war die Wiederbewaffnung mit Voraussetzung dafür?

General a. D. Naumann: Die Wiederbewaffnung war der Preis der Westbindung. Aus ihr und zum Teil durch sie entstand die deutsch-amerikanische Freundschaft; und es festigte sich die Bereitschaft der USA, Europa vor den bis 1988 bestehenden Angriffsplänen der Sowjetunion zu schützen. Ohne diesen amerikanischen Schutzschirm wären weder die Aussöhnung mit Frankreich noch der Aufbau der EU gelungen. Aus diesen beiden Entwicklungen entstand das Vertrauen zu Deutschland, das Voraussetzung für die Vereinigung Deutschlands 1990 war, die wir allerdings ohne die Unterstützung der USA nicht hätten erreichen können.

Die Wiederbewaffnung hatte zudem eine andere wichtige Nebenwirkung: Durch die Integration in das NATO-Bündnis konnte das Vertrauen der Gegner aus dem II. Weltkrieg gewonnen werden – das war eine der Leistungen der Gründerväter der Bundeswehr. Dieses Vertrauen war von unschätzbarem Wert, als das ohnehin schon starke West-Deutschland sich 1990 anschickte, durch die Vereinigung mit der ehemaligen DDR das größte Land Europas zu werden.

Schließlich war ein weiteres Ergebnis der Wiederbewaffnung eine Bundeswehr, die Deutschland Gewicht in der NATO gab und die eine solide Basis für die Integration von Teilen der Nationalen Volksarmee bildete, denn die Bundeswehr des Jahres 1990 war eine kampfkräftige, gut ausgebildete und in der ganzen Welt respektierte Truppe. Auf dieser Basis konnte die historische Leistung in den frühen neunziger Jahren erbracht werden, zwei Armeen aus unterschiedlichen Bündnissen und völlig verschiedenen Gesellschaftssystemen zur Bundeswehr des vereinten Deutschlands zu machen.

Das Interview führte Josef König.