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Pflicht

Dr. Matthias Gillner, Dozent für Katholische Sozialethik an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg
Foto: privat
Was kann einem – so scheint es oft – mehr den "Spaß an der Freud‘" verderben und unbeschwerte Freiheitsgefühle bedrücken wie der Gedanke der Pflicht? Die Vorstellung, von persönlichen Vorlieben absehen zu müssen und sich einem (inneren?) Anspruch zu fügen, steht einer ungebundenen Lebensführung und einem lustorientierten Lebensstil im Weg. Obendrein ist das Wort durch die deutsche Geschichte belastet. Blinder Gehorsam und strikte Gesetzestreue wurden (nicht erst) im Nationalsozialismus zur Pflicht erklärt.

Doch solche Deutungen und Missbräuche verfehlen den moralischen Begriff. Schließlich korrespondiert der moralischen Pflicht die Idee einer wahrhaft autonomen Lebensführung: Sie verlangt den Gebrauch der eigenen Vernunft – und sie muss durchaus nicht eigenen Wünschen zuwiderlaufen. Für Immanuel Kant ist sie ein "erhabener, großer Name", ein unbedingtes Sollen, in dem sich die freie Person an das moralische Gesetz der praktischen Vernunft gebunden erfährt ("Faktum der reinen Vernunft"): "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte." (Kritik der prakt. Vernunft, Akad.-Ausg.: 30)

Vollkommene und unvollkommene Pflichten

Auch wenn die Pflicht ein grundlegender Begriff der modernen Ethik ist, so reicht die Vorgeschichte doch bis in die Antike zurück. Das mit Pflicht übersetzte lateinische "officium" von Cicero (106–43 v. Chr.) meint jedoch eine Handlung, die dem natürlichen Vermögen des Menschen entspricht. Die seiner Natur zukommende Handlung (medium officium), etwa die Rückgabe anvertrauten Vermögens, ist aber erst dann sittlich gut, wenn sie aufgrund der Tugend der Gerechtigkeit vollzogen wird (perfectum officium). Einen ideengeschichtlich prägenden Einfluss übte der Mailänder Bischof Ambrosius (339–397) aus, indem er die Unterscheidung Ciceros zwischen "mittleren" und "vollkommenen Pflichten" als inhaltlich verschiedene Handlungsanweisungen interpretiert: als obligatorische Vorschriften (z. B. die Verbote aus dem Dekalog) und als empfehlenswerte Räte (z. B. die Weisungen Jesu aus der Bergpredigt).

Zu einer Umkehrung des Pflichtenverhältnisses kommt es im Naturrechtsdenken Samuel Pufendorfs (1632–1694). Vollkommenheit, zuvor auf die moralische Güte der Person bezogen, zielt jetzt auf die Verbindlichkeit der Handlung. Vollkommene Pflichten sind erzwingbar, während unvollkommene Pflichten der freiwilligen Erfüllung überlassen sind. In Kants Unterscheidung zwischen dem starken Gesetz der Schuldigkeit (Rechtspflichten) und dem schwachen der Gütigkeit (Tugendpflichten) findet die Lehre von den vollkommenen und unvollkommenen Pflichten ihren systematischen Höhepunkt. Heute wird oft zwischen Erlaubnishandlungen (z. B. Barmherzigkeit) und Geboten, zwischen Verpflichtungen (z. B. Eid) und natürlichen Pflichten, zwischen negativen (z. B. Tötungsverbot) und positiven Pflichten (z. B. Nothilfe) unterschieden.

Pflichtenkollisionen

Pflichten können miteinander kollidieren: die "negative Pflicht" zur Unterlassung eines Medikamentendiebstahls mit der "positiven Pflicht" zur Heilung eines Kranken, die Verpflichtung, einen versprochenen Termin einzuhalten, mit der natürlichen Pflicht, gleichzeitig einem Unfallopfer zu helfen. William D. Ross (1877–1971) unterscheidet daher zwischen den allgemeinen, aber nicht ausnahmslos geltenden Pflichten ("prima-facie-Pflichten") und der aktualen Pflicht in einer konkreten Situation. Bei der genauen Bestimmung der aktualen Pflicht muss die Situation genau geprüft, die Dringlichkeit von Pflichten (z. B. Erhaltung des Lebens vor Schutz des Eigentums) geklärt und nach erprobten Vorzugsregeln – wie z. B. die Wahrscheinlichkeitsregel – abgewogen werden. Dies verlangt nicht nur Wahrnehmungskompetenz und Vorstellungsvermögen, sondern auch eine geschulte Urteilsfähigkeit.

Der Anspruch der Pflicht ist nicht bloß Last. Christen können ihn leben aus der allen Leistungen zuvorkommenden Liebe Gottes.