4 
           

Wann ist Töten im Krieg moralisch erlaubt?

von Dr. Uwe Steinhoff

Foto: © Joerg Glaescher / laif
Wann ist es moralisch erlaubt, einen Menschen ohne dessen Zustimmung zu töten? Während einige Denker meinen, dass dies nie erlaubt sein kann, ist doch die Mehrheit der Philosophen (und vermutlich der Menschen überhaupt) der Ansicht, dass es plausible Rechtfertigungen für die nicht einvernehmliche Tötung eines Menschen geben kann. Dabei muss man zwischen der erlaubten und gerechten Tötung einerseits und der bloß erlaubten andererseits unterscheiden.

Notwehr gegen ungerechte Bedrohung

Die Notwehr gegen eine ungerechte Bedrohung ist gerecht. Das heißt, wenn Franz ungerechterweise versucht Maria zu töten, und Maria ihr Leben (oder das anderer zu Unrecht Angegriffener) nur retten kann, indem sie Franz körperlichen Schaden zufügt, so ist sie (extreme Sonderfälle beiseite lassend) moralisch befugt, diesen Schaden zuzufügen. Die Hinzufügung dieses Schadens ist darüber hinaus gerecht, was sich daran zeigt, dass Maria Franz für die Zufügung dieses Schadens anschließend weder eine Entschuldigung noch Wiedergutmachung schuldet. Franz ist an seinem Zustand selbst Schuld: Er hat durch seinen ungerechten Angriff zuallererst eine Situation heraufbeschworen, in der entweder eine unschuldige oder eine für die Situation verantwortliche Person (er selbst) verletzt werden muss. Daher ist es nur gerecht, wenn er die sich daraus ergebenden Kosten selbst trägt. Nicht anders verhält es sich, wenn Maria ihr Leben gegen Franz’ Angriff nur verteidigen kann, indem sie Franz tötet.

Aus moralischer Sicht dürfen ungerecht Bedrohende nicht nur in Notwehr getötet werden. Dem deutschen Strafrecht zufolge (ich benutze das Strafrecht nur zu illustrativen Zwecken, der Gegenstand dieses Artikels ist eine moralische Frage) richtet sich Selbstverteidigung gegen einen gegenwärtigen Angriff. Betrachten wir aber den folgenden Fall: Maria ist von Franz in die Wildnis entführt und gefesselt worden. Bevor er sich schlafen legt, versichert er ihr glaubhaft, dass er sie am nächsten Morgen vergewaltigen und ermorden wird. In der Nacht gelingt es Maria, sich zu befreien. Sie könnte jetzt einfach weggehen. Sie ist also keinem gegenwärtigen Angriff mehr ausgesetzt. Nichtsdestoweniger weiß sie, dass sie Franz, einem geübten Fährtensucher, der zudem weitaus kräftiger und schneller ist als sie, auf Dauer in der Wildnis nicht entkommen kann und keine Hilfe in der Nähe ist. Ihre einzige Überlebenschance ist somit, Franz im Schlaf zu erschlagen (nehmen wir an, der Versuch, lediglich sein Bein zu brechen, wäre zu riskant und ihr daher nicht zumutbar).

Foto: © Bundeswehr / Kunduz
In Anlehnung an das deutsche Strafrecht können wir hier von einem rechtfertigenden Notstand sprechen, welcher sich nicht auf einen gegenwärtigen Angriff, sondern auf eine gegenwärtige Gefahr bezieht. Während der juristischen Mehrheitsmeinung zufolge das deutsche Strafrecht einen solchen Notstand nicht zur Rechtfertigung einer Tötung zulässt, scheint aus moralischer Perspektive eine Tötung in diesem Falle moralisch erlaubt. (Übrigens gestattet das einflussreiche US-amerikanische Musterstrafgesetzbuch sehr wohl die Tötung im rechtfertigenden Notstand, und dieser Auffassung sind die Strafgesetzbücher mehrerer US-amerikanischer Bundesstaaten gefolgt.) Wie auch im obigen Falle der Selbstverteidigung ist Franz dafür verantwortlich, dass in dieser Situation eine von zwei Personen, eine unschuldige und eine für die Situation verantwortliche, getötet wird. Da er für diese Situation selbst verantwortlich ist, ist es wiederum nur gerecht, wenn er auch die Kosten trägt. Daraus ist zu folgern, dass Soldaten unter Umständen ungerechte Feindsoldaten auch dann töten dürfen, wenn diese nicht gerade angreifen, sondern schlafen, ihre Waffen warten oder sich auf einem strategischen oder taktischen Rückzug befinden.

Philosophische Betrachtung

Einige Philosophen haben sehr überzeugende Gründe vorgelegt, warum nicht nur ungerechte Bedrohungen selbst, sondern auch die schuldhaften Verursacher ungerechter Bedrohungen angegriffen werden dürfen. Ist etwa der ansonsten unbescholtene Franz von einem Mafiaboss unter Androhung der Tötung von Franz’ Familie dazu gezwungen worden Maria zu attackieren, so sollte Maria, wenn sie die Gefahr sowohl durch die Tötung von Franz als auch durch die Tötung des Mafiabosses abwehren kann, eher den letzteren, nämlich den an der Situation größere moralische Schuld tragenden, angreifen. Entsprechend stellt in einem Krieg mit einer Diktatur (und unter Umständen gar mit einer Demokratie) die dortige Politikerkaste oftmals ein angemesseneres Angriffsziel dar als die blutjungen, indoktrinierten oder massivem Zwang ausgesetzten Soldaten.

Viele Philosophen und Personen überhaupt sind zudem der Auffassung, dass auch ungerechte Tötungen (und die Tötung Unschuldiger ist immer ungerecht) erlaubt sein können, nämlich dann, wenn sie das kleinere Übel darstellen. So sieht die Lehre von der doppelten Wirkung vor, dass die vorhergesehene (aber nicht eigens beabsichtigte) Tötung von Unschuldigen im Zuge eines Angriffs auf ein militärisches Ziel erlaubt sein kann, wenn die moralischen Kosten der Tötung dieser Unschuldigen von dem moralischen Nutzen der Vernichtung des militärischen Ziels überwogen werden. Die Lehre von der doppelten Wirkung lehnt hingegen Tötungen Unschuldiger ab, die nicht lediglich „Nebenfolgen“ eines Angriffs auf ein militärisches Ziel sind, sondern Selbstzweck oder Mittel zu einem Zweck (wie dies zum Beispiel bestimmten Definitionen zufolge beim Terrorismus der Fall ist).

Foto: © Jan Grarup / Noor / laif
"Kollateralschäden"?

Die Behauptung der Lehre von der doppelten Wirkung, dass die beabsichtigte Tötung Unschuldiger ceteris paribus verwerflicher sei als deren vorhergesehene Tötung, ist jedoch in letzter Zeit von diversen Philosophen mit sehr überzeugenden Argumenten und intuitiv einleuchtenden Beispielen scharf kritisiert worden. Ohne eine Widerlegung dieser Kritiken bleibt die weithin vertretene Auffassung, dass Terrorismus per se verwerflicher sei als die Herbeiführung sogenannter „Kollateralschäden“, unbegründet (zumindest ein Philosoph hat übrigens den verniedlichenden Ausdruck „Kollateralschäden“ zugunsten des Ausdrucks „beiläufiges Abschlachten“, insbesondere in Bezug auf Luftangriffe, zurückgewiesen). Selbst wenn jedoch das absichtliche Töten Unschuldiger ceteris paribus verwerflicher sein sollte als das vorhergesehene Töten Unschuldiger, so werden doch die wenigsten Menschen die Auffassung vertreten, dass die absichtliche Tötung Unschuldiger nie erlaubt sein kann: Was, zum Beispiel, wenn man die Menschheit (aus welchen Gründen auch immer) vor der Ausrottung nur bewahren kann, indem man einen bestimmten unschuldigen Menschen tötet? Sollte man dann lieber die gesamte Menschheit (einschließlich dieses bestimmten unschuldigen Menschen und aller Kinder) untergehen lassen, anstatt nur diesen einen zu töten? Die wenigsten werden auf diese Frage ohne weiteres mit Ja antworten.

Kriegsrecht

Das internationale Kriegsrecht stellt Soldaten der ungerechten Seite, welche Kombattanten der gerechten Seite töten, nicht unter Strafe. Im Lichte der oben genannten Modelle gerechtfertigter Tötung ist dies jedoch nicht unmittelbar einsichtig. Wenn zum Beispiel die Soldaten der Nation A ungerechterweise in das Territorium der Nation B einfallen, um die dortigen Ressourcen an sich zu reißen, so sind Aggressorsoldaten allerdings ungerechte Bedrohungen; die Verteidigersoldaten sind dies jedoch nicht zwangsläufig. Der Grund ist offensichtlich: Wenn Franz ungerechterweise auf Maria schießt und sie aus Selbstverteidigungsgründen zurückschießt, so ist ihre Selbstverteidigung gerecht und mithin keine Rechtfertigung für Franz, Marias Gegenfeuer seinerseits mit weiterem Feuer zu erwidern. Tut er dies doch und tötet Maria dabei, so ist dies moralisch (und auch dem deutschen Strafrecht zufolge) Totschlag oder Mord. Nicht anders verhält es sich aus moralischer Sicht im Kriegsfalle.

Obgleich dieses Argument zeigt, dass man nicht von einer generellen symmetrischen moralischen Tötungserlaubnis von Soldaten auf beiden Seiten ausgehen kann (es kann freilich gute moralische Gründe geben, warum das Kriegsrecht Soldaten der ungerechten Seite, welche sich an das Kriegsrecht halten, juristische Straffreiheit zusichert – dies ist jedoch nicht mit einer moralischen Erlaubnis zu verwechseln), so schränkt eine weitere Überlegung die Reichweite dieses Arguments ein: In fast allen modernen Kriegen stellen auch die Soldaten der vermeintlich gerechten Seite ungerechte Bedrohungen dar, da sie durch ihre Kriegshandlungen auch unschuldige Zivilisten ums Leben bringen oder zu bringen drohen. Zur Verteidigung der Unschuldigen auf ihrer Seite dürfen dann, so scheint es, die Soldaten der ungerechten Seite ihrerseits die Soldaten der „gerechten“ Seite angreifen. Dies bedeutet im Übrigen auch, dass dem individuellen Soldaten die Teilnahme an einem ungerechten oder ungerechtfertigten Krieg nicht automatisch moralisch verboten ist. Gegen dieses Argument sind freilich wiederum Gegenargumente vorgebracht worden. Diese fortdauernde Debatte, obgleich ungemein wichtig, ist allerdings derart kompliziert, dass sie im gegenwärtigen Kontext nur erwähnt werden kann.

Recht und Gehorsam

Kann eine ungerechte Tötung selbst dann erlaubt sein, wenn sie nicht das kleinere Übel darstellt? Manche meinen, dass es Soldaten moralisch erlaubt ist, in einen Krieg zu ziehen und Menschen zu töten, sofern sie von einem demokratischen Rechtsstaat in den Krieg geschickt wurden und sich an das Kriegsrecht halten. Dies ist jedoch ein Irrtum. Eine generelle Gehorsamspflicht gegenüber dem demokratischen Rechtstaat lässt sich schon in weniger dramatischen Bereichen nicht begründen, wie die umfangreiche Literatur zum „philosophischen Anarchismus“ überzeugend zeigt; erst recht aber ist nicht einsehbar, wieso wohl irgendeine Entität, der demokratische Rechtsstaat (oder selbst Gott) eingeschlossen, die eigenartige Fähigkeit haben sollte, durch einen bloßen Befehl das Töten Unschuldiger moralisch zulässig zu machen (und nicht nur Zivilisten, auch Feindsoldaten, die keine ungerechten Bedrohungen darstellen, sind im relevanten Sinne unschuldig). Jeder Versuch, dies zu erklären, ist gescheitert.

Dies bedeutet, dass der Bürger in Uniform, so wie andere Bürger auch, die Verantwortung für sein Handeln, einschließlich der Beteiligung an einem Krieg und der darin durchgeführten Kriegshandlungen, nicht an andere abschieben kann. Die Frage, wann Töten im Krieg erlaubt ist, ist eine Frage, die sich dem Soldaten unmittelbar selbst stellt und stellen muss. Die obigen Überlegungen zeigen, dass eine Antwort auf diese Frage jedoch komplizierter ist, als es das Kriegsrecht vermuten ließe. Dies ist keine Entschuldigung ihr auszuweichen. Umgekehrt hat dann freilich auch der Gesetzgeber keine Entschuldigung, wenn er die Welt einfältig in Pazifisten und Bellizisten unterteilt und meint, es könne Gewissensentscheidungen nur gegen Kriege überhaupt, nicht aber gegen bestimmte Kriege und Kriegshandlungen geben.

Gewissensentscheidungen – auch von Soldaten – sind durchaus ernst zu nehmen.

Dr. Uwe Steinhoff,
Assistant Professor am Department of Politics and Public Administration der Universität Hong Kong, ist Verfasser von „On the Ethics of War and Terrorism“ (Oxford University Press 2007)