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Stille Nächte - oder: Was es in postsäkularen Zeiten bedeutet, wenn "es weihnachtet"

von Prof. Dr. Hans-Joachim Höhn

Flandern, Weihnachten 1914: deutsche und britische Truppen feiern gemeinsam.
Foto: © Mansell/Mansell/Time&Life Pictures/Getty Images
Flandern im Dezember 1914: aus dem Westen nichts Neues. Seit Wochen herrscht Stellungskrieg. Engländer, Franzosen, Belgier auf der einen Seite – ihnen gegenüber die Truppen des Deutschen Reiches. Die anfängliche Kriegsbegeisterung ist längst dahin und der Krieg ist stecken geblieben in den zahllosen Schützengräben von der Nordsee bis zur Schweizer Grenze. Zwischen den umkämpften Stellungen erstreckt sich Niemandsland, Totenland. Über die Stacheldrahtverhaue jagen immer wieder Artilleriestöße und machen die Gräben zu Gräbern. Doch am Weihnachtsmorgen 1914 geschieht etwas, das jenseits jeglicher militärischer Strategie und Taktik liegt. An diesem Tag erklären Feinde einander den Frieden. In der Heiligen Nacht hat es begonnen. Erst vereinzelt und zaghaft, aber dann an vielen Stellen und sich in Lautstärke und Intensität verstärkend, werden Weihnachtslieder gesungen. Christmas, Noël, Weihnachten – ein jeder in seiner Sprache, doch die Botschaft ist dieselbe: Friede auf Erden. Es kommt zu spontanen Verbrüderungen zwischen den Soldaten, auch viele Offiziere schließen sich ihnen an und sie alle vereinbaren, dass für zwei Tage die Waffen schweigen sollen. Länger darf der kleine Frieden im großen Krieg auf Befehl von oben nicht dauern.
Wenn es Weihnachtswunder gibt, dann gehört diese Geschichte von der Westfront im Dezember 1914 dazu. Mitten im Krieg wurden die Worte wahr: „… auf Erden ist Friede, bei den Menschen seiner Gnade“ (Lk 1,14). Wenigstens an ein, zwei Tagen ist ausgeschlossen, was das Leben bedroht, das Herz bedrückt und die Seele ängstigt. „Still schweigt Kummer und Harm ...“ Wenigstens an ein, zwei Tagen steht die Kriegsmaschine still und stellt sich Stille ein. Eine kurze Auszeit – aber immerhin lange genug um sich gewiss zu sein: So wie es ist, wird es nicht bleiben. Aber es sollte nicht nur einmal so sein, sondern immer wieder!

"Alle Jahre wieder …"

Alle Jahre wieder ist der Dezember die Zeit der großen Wünsche und der großen Worte. Und natürlich gehören Friedenswünsche dazu. Allerdings ist im Weihnachtsevangelium das Thema „Friede“ nicht die Hauptsache. Das eigentliche Thema ist die Frage nach der Antreffbarkeit Gottes unter den Menschen, im Zwischen-Menschlichen. Den Menschen und ihren Zerwürfnissen soll etwas „dazwischenkommen“, ein Freiraum der Begegnung von Gott und Mensch soll entstehen. Allerdings haben viele andere Motive aus der Weihnachtsgeschichte im Lauf der Zeit diesem Fest ein anderes Gepräge gegeben und es zum Fest der Liebe, der Familie, der Kinder (oder vielleicht auch nur des Jahreswechsels) werden lassen. Weihnachten ist weithin zu einer Projektionsfläche für alle großen Sehnsüchte des Menschen geworden: Geborgenheit, Harmonie, Zuwendung. Bisweilen verblassen auch diese Inhalte und Weihnachten steht bloß für das „unbestimmte Besondere“. In der Werbung begegnet es ohnehin vielfach nur noch als „Das Fest“ und es bleibt offen, was es denn zu feiern gibt.

Hier wird exemplarisch deutlich, wie in „postsäkularen“ Zeiten das Religiöse und das Säkulare sich in neuen Konstellationen zusammenfinden. Mit dem Kennwort „postsäkulär“ ist in der neueren Religionssoziologie die These verbunden, dass das Religiöse ungeachtet etlicher Säkularisierungswellen nicht aus der Gesellschaft verschwindet, sondern in ihr antreffbar bleibt. Diese Antreffbarkeit ist nicht beschränkt auf die religiösen Nischen und Refugien der Gesellschaft, sondern lässt sich auch für gänzlich säkulare Bereiche nachweisen – vom ökonomischen „Kultmarketing“ über die Liturgien sportlicher Großveranstaltungen und zivilreligiösen Rituale in der Politik bis hin zur Verarbeitung von Mythen und Mysterien in der Popkultur. Fraglich ist allerdings, ob dabei Religion als Religion präsent bleibt. Vielfach kommt es zum Tausch zwischen der Hauptrolle des Religiösen als Transzendenz-Verweis und seinen Nebenrollen im Bereich des Ästhetischen. Beobachtbar sind vielfach eine Dekontextuierung und eine nicht-religiöse Aneignung religiöser Traditionen, eine Inversion transzendenz-orientierter Weltdeutungen und eine Diffusion des Religiösen ins Säkulare. Der Advent bietet für entsprechende Fallstudien ergiebiges Material. Viele der auf den Weihnachtsmärkten antreffbaren Fragmente und Versatzstücke des Christentums sind auf ihren religiösen Hintergrund kaum noch transparent bzw. hinsichtlich ihrer christlichen Herkunft „anonymisiert“ und inhaltlich „entkernt“. Solche Bestände sind nur noch „religionsförmig“; religiöse Symbole werden lediglich als „Cover“ für nicht-religiöse Ziele, Zwecke und Motive eingesetzt.

Foto: © Pixelio / Uwe Steinbrich
"Es weihnachtet!"

Ebenso unbestimmt ist die Redeweise „es weihnachtet“. Gemeint ist damit eine schwer beschreibbare Stimmung, die halb jahreszeitlich bedingt, halb vom Menschen gemacht das Land überzieht. Kaum ein anderes Fest lebt hierzulande so sehr von einer Atmosphäre, die es braucht und zugleich schafft, wie Weihnachten. Sie ist eine Komposition aus Licht, Wärme, Innigkeit und Heimweh nach der Kindheit. Für einen Monat bestimmt diese Atmosphäre das Leben und Fühlen. Sie verdichtet sich am „Heiligen Abend“. Wer an ihm unterwegs sein muss, trifft auf den Straßen nur wenige Menschen. Alles Leben scheint sich von draußen ins Innere der Häuser verzogen zu haben. Weihnachten wird da gefeiert, wo man „daheim“ ist. Wer jetzt allein ist, hat mit wehmütigen Erinnerungen zu kämpfen. Weihnachten ist auch ein bitteres Fest. Es macht vielen Menschen bewusst, was sie zum Leben bitter nötig haben. Und ebenso viele spüren in diesen Stunden, wie sehr sie entbehren, was ein wenig Wärme in ihr Leben bringen könnte.

Manche Zeitgenossen, die sich für aufgeklärt und kritisch halten, erklären alles, was sich in einer solchen „stillen und heiligen Nacht“ in und mit den Menschen ereignet, zur kitschigen Sentimentalität. Weihnachten ist für sie nur ein Auslöser für eine Regression ins Kindesalter. Und sie haben größtes Verständnis für alle, die aus dieser Gefühlsseligkeit ausbrechen und sie mit dem Trubel von Kneipen und Discotheken eintauschen, die ihre Türen eigens für ein solches Klientel öffnen und „postreligiöse“ Feiertage anbieten. Aber wären sie wirklich aufgeklärt, müssten sie es eigentlich besser wissen. Nicht jedes Gefühl endet im Kitsch und was von Kind auf dem Menschen wichtig bleibt, muss ihm keineswegs ein Leben im Modus der steten Rückblende aufdrängen. Es gibt Dinge, die man nicht hinter sich lassen darf, wenn man vorankommen möchte. Und es gibt Stimmungen, die wir uns nicht verbieten dürfen – allen Unstimmigkeiten zum Trotz. Jene seltenen Gottesdienstbesucher, die nur noch zur Christmette eine Kirche betreten, scheinen sich eine Ahnung dieses besseren Wissens bewahrt zu haben: Wir brauchen Stimmungen, in denen wir uns öffnen für Wirklichkeiten und Werte, die sich nur von denen erfahren lassen, die sich auf sie eingestimmt haben. Stimmungen sind das Pendant zu Atmosphären – durch sie werden wir sensibel und resonanzfähig für das, dem man nur im Fühlen und Spüren auf die Spur kommt und das auf diese Weise zugleich eine Spur durch uns zieht. Es ist dasjenige, das uns vielleicht nicht in den Kopf will, sondern ins Herz trifft – weil es nur dort hingehört. Wenn man dort nicht spürt, auf welche Werte es letztlich ankommt, wie will man ihnen auf der Spur bleiben? Vielleicht haben sich gerade die „fernen Kirchentreuen“ einen Sinn dafür erhalten, worin die Säkularisierungs-Resistenz authentischer Religiosität besteht. Sie lässt sich nicht abgelten mit säkularen „updates“ oder Coverversionen der Sehnsucht nach Zeiten und Orten, an denen man ebenso sich selbst wie dem Himmel nahe kommen kann. Mit frommer Rührseligkeit oder billigem Gefühlskitsch hat dies nichts zu tun. Zur postsäkularen Signatur unserer Zeit gehört eben auch, dass inmitten fortwirkender Säkularisierungsprozesse sich ein religiöses Bewusstsein widerständig behaupten kann, das auf Einsichten und Überzeugungen setzt, die das Säkulare nicht hervorbringen oder ersetzen kann.

Fest des kleinen Friedens

Das Weihnachtswunder von Flandern im Jahre 1914 ist ein Lehrstück darüber, was Menschen möglich ist, wenn sie ihren Erinnerungen treu bleiben und ihre Gefühle und Sehnsüchte ernst nehmen – auch wenn es am Ende wieder ein bitterer Ernst wurde. Dieses Wunder hätte sich niemals zutragen können, wenn es nicht Soldaten gegeben hätte, die ein Gespür dafür behielten, was an der Zeit war – und was mit der Zeit aus der Zeit des kleinen Friedens im großen Krieg noch hätte werden können.

Prof. Dr. Hans-Joachim Höhn,
Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie
am Institut für Katholische Theologie an der Universität Köln