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Gewaltlosigkeit | Dr. Matthias Gillner,
Dozent für Katholische Sozialethik an der Führungsakademie der
Bundeswehr
in Hamburg | Gewaltlosigkeit im christlichen Sinn meint nicht Angst vor dem Feind. Sie ist auch nicht Konsequenz der resignativen Einschätzung, dass durch Gegengewalt die Lage doch immer nur verschlechtert werden kann. Vielmehr zeigt sich in dieser Haltung eine schöpferische Kraft, die den Hass des anderen überwindet, verständigungsorientierte Lösungen erschließt, Felder der Kooperation anbietet und letztlich durch Versöhnung Frieden schafft. Gewaltlosigkeit lebt aus der eschatologischen Hoffnung, den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt endgültig zu durchbrechen.
Wert der Gewaltlosigkeit
Die Weisungen aus der Bergpredigt, die andere Wange hinzuhalten, die Feinde zu lieben, für die Verfolger zu beten (vgl. Mt 5,38–45), und das Beispiel gebende Leben Jesu selbst prägten das Selbstverständnis und die Praxis der frühen Kirche. Kriege gehörten zu den Kennzeichen einer sündigen Welt, von der die Christen sich distanzierten und gegen die sie ihr Ethos der Gewaltlosigkeit setzten. Später konzentrierten sich die moralischen Bemühungen zunehmend auf die Minimierung von Gewalt. Es entwickelte sich eine restriktiv formulierte Lehre vom „gerechten“ Krieg, deren Anspruch die kirchlichen und weltlichen Autoritäten aber meist nicht gerecht wurden. Das Ideal christlicher Gewaltlosigkeit wurde auf die mönchische Lebensform enggeführt. Allerdings setzten die Armutsbewegungen des Mittelalters (Waldenser, Franziskaner) deutliche Gegenakzente. Gleichwohl verblasste in der Neuzeit der Gedanke der Gewaltlosigkeit immer mehr und blieb schließlich auf wenige Humanisten (Erasmus von Rotterdam, Juan Luis Vives) und sich eigens darauf verpflichtende Friedenskirchen (Mennoniten, Quäker) beschränkt. Erst nach den leidvollen Erfahrungen zweier Weltkriege und angesichts der Möglichkeit atomarer Vernichtung allen irdischen Lebens wurde die Idee der Gewaltlosigkeit nicht mehr nur von einzelnen Persönlichkeiten (Mahatma Gandhi, Martin Luther King) vertreten, sondern ergriff größere Bevölkerungsteile und entfaltete immer wieder sogar eine gesellschaftsverändernde Kraft (indische Widerstands-, US-amerikanische Bürgerrechts- und europäische Friedensbewegung).
Pazifistische Option
Der absolute Pazifismus lehnt jeden Einsatz von militärischen Gewaltmitteln kategorisch ab. Davon grenzt sich ein erkenntnisskeptisch „einzelfallbezogener Pazifismus“ (Olaf Müller) ab, indem er jeden gewaltsamen Konflikt eigens zu prüfen fordert. Insofern er aber im Blick auf die stets unkalkulierbaren und indiskriminatorischen Wirkungen nicht mehr damit rechnet, dass moderne Kriege faktisch je zu rechtfertigen sind, unterscheidet er sich im Ergebnis doch nicht vom absoluten Pazifismus. Er verbietet es sich, die Suche nach friedlichen Mitteln und Wegen zur Konfliktlösung abzubrechen („regulative Idee“); er wehrt sich gegen jede Verteufelung des Gegners, schärft den Blick für die unschuldigen Opfer und unkontrollierbaren Folgen militärischer Gewalt.
Vorrangige Option für Gewaltlosigkeit
Aus dem biblischen Wert der Gewaltlosigkeit lässt sich zwar ein Verbot primärer Gewalt und jeglicher Form rächender Gerechtigkeit, auch eine Aufforderung zur provokativen Durchbrechung des Regelkreises von Gewalt ableiten, nicht aber eine ausnahmslos gültige Norm. Wenn der Verzicht auf Gewalt „auf Kosten des Wohles anderer, zumal Dritter geht, kann er sogar gegen die Absicht Jesu sein: in seinem Namen haben Christen um der Nächstenliebe willen zugunsten von Armen, Schutzbedürftigen und Entrechteten deren Unterdrückern wirksam entgegenzutreten“ (Pastoralbrief der Kath. Bischofskonferenz der USA zu Krieg und Frieden, 1983, 16). Eine vorrangige Option für Gewaltlosigkeit, die primär nach gewaltfreien Strategien zur Austragung von Konflikten sucht, darf dann zum Gegenstand einer Abwägung gemacht werden, wenn sie mit der ebenso grundlegenden Option für die Opfer von Gewalt kollidiert, insofern deren Schutz ohne Anwendung von Gewaltmitteln nicht mehr gewährleistet werden kann.
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