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Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?

Bundespräsident Johannes Rau bezeichnete bei einem Empfang im Berliner Schloss Bellevue die Militärseelsorge als „wichtige unverzichtbare Aufgabe“.
Über die begrifflich korrekte Verortung des Verhältnisses von Staat -Kirche - Religion wird gegenwärtig heftig gestritten. Dabei ist die Bezeichnungsfrage keineswegs neu. Der Bayreuther Verfassungsrechtler Peter Häberle hat sie schon vor gut dreißig Jahren angestoßen und es ist mehr als ein origineller wissenschaftlicher Gag, wenn Häberle normorientiert auf Art. 140 GG/137 Abs. 1 WRV verweist: wenn keine Staatskirche bestehe, könne es auch kein Staatskirchenrecht geben, vielmehr sei eine solche Bezeichnung "verfassungswidrig".

Das Begriffswirrwarr wird aber noch größer, wenn man weitere Bezeichnungen wie Religionsrecht, Religionsgemeinschaftsrecht, Weltanschauungsrecht, Bekenntnisverfassungsrecht in die Diskussion wirft. Die Unsicherheit bei der alten Kennzeichnung als "Staatskirchenrecht" ist eine Reaktion auf sehr unterschiedliche und im Einzelnen äußerst kontrovers beurteilte Phänomene. Stichworte müssen genügen: Säkulare oder postsäkulare Gesellschaft, zunehmende bzw. wiederkehrende Religiosität bei gleichzeitiger Erosion von Kirchenbindung oder wachsende Multireligiösität der deutschen Gesellschaft. Ob diese He-rausforderungen an die aktuelle Rechtslage eine Neuumschreibung des Rechtsgebiets erfordern? Der Vorsitzende des Rats der EKD, der Berliner Bischof Wolfgang Huber, plädiert für die Beibehaltung des Begriffs "Staatskirchenrecht".

Während eine begriffsgeschichtliche Erörterung der Bezeichnungsfrage eher unaufgeregt zutage fördert, dass die Bezeichnungen und Umschreibungen des Rechtsgebiets zu unterschiedlichen Zeiten sehr verschieden waren und das Staatskirchenrecht sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts als feststehende Titulatur etablierte, sorgt die inhaltliche Aufladung der Alternative zwischen einem institutionellen Staatskirchenrecht und einem grundrechtsgeprägten Religionsverfassungsrecht für Aufregung. Exemplarisch ist das Referat des ehemaligen Richters des Bundesverfassungsgerichts, Paul Kirch-hof, auf den Essener Gesprächen zu Staat und Kirche im März 2004. Kirchhof trat nachdrücklich für ein Staatskirchenrecht ein, weil ein Religionsverfassungsrecht die kollektive Religionsfreiheit nur noch als Summe individueller Grundrechtswahrnehmung in den Blick bekomme. Zudem bedürfe es eines Staatskirchenrechts, damit der Staat die kirchlichen Lehren und Lebensformen, die auch seine Kultur tragen, fördern und schützen könne. Kritiker dieser Position sehen in diesem Ansatz Kirchhofs einen Versuch, die christlichen Kirchen zu privilegieren und das Rechtsgebiet gegen Weiterentwicklungen hermetisch abzuschirmen. Dabei zeige sich die Bewährung der bestehenden grundgesetzlichen Ordnung gerade darin, auch fremde Religionen oder Religionsformen in ihr normatives Ordnungskonzept zu integrieren. Hierfür bedürfe es einer grundrechtsorientierten Auslegung auch der Bestimmungen aus der Weimarer Reichsverfassung (WRV), die durch Art. 140 GG dem Grundgesetz 1949 inkorporiert worden sind.

Der neu ernannte Militärbischof, Joseph Kardinal Wendel, besucht am 10. Februar 1956 den ersten Bundesverteidigungsminister Theodor Blank in Bonn. Anlass ist ein Gespräch über aktuelle Fragen der Militärseelsorge. Im Bild v. l.: Joseph Kardinal Wendel, Bundesminister der Verteidigung Theodor Blank und Bischof Hermann Kunst von der evangelischen Militärseelsorge
Ob die aus der WRV übernommenen Gewährleistungen lediglich einen "institutionellen Überhang" (Josef Isensee) darstellen oder nicht schon immer einen Grundrechtsbezug aufwiesen, kann hier nicht im einzelnen dargestellt werden. Das Bundesverfassungsgericht geht in seiner "Zeugen Jehovas-Entscheidung" davon aus, dass die Weimarer Kirchenartikel funktional auf die Inanspruchnahme und Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit gerichtet seien. Auch Joseph Listl hat in seiner grundlegenden Arbeit über die Religionsfreiheit aus dem Jahr 1971 dargelegt, dass etwa das religionsgemeinschaftliche Selbstbestimmungsrecht mit dem Schutzgegenstand der Religionsfreiheit identisch ist.

Der Bezeichnungstreit lässt sich zu einem Gutteil relativieren, wenn man sich mehr der grundgesetzlichen Ordnung zwischen Staat und Religion zuwendet. Schon die Weimarer verfassungsgebende Versammlung verfolgte nicht das Ziel, allein die christlichen Kirchen wegen ihrer historisch-genetischen Verquickung mit den staatlichen und gesellschaftlichen Grundlagen bevorzugen zu wollen. Eine strikte Trennung zwischen Staat, Kirche und Religion war aber ebensowenig intendiert, weshalb das deutsche Verfassungskonzept auch nur unzutreffend mit dem Topos "hinkende Trennung" (Ulrich Stutz) umschrieben ist; besser ist Ulrich Scheuners Beschreibung als gelockerte Fortführung der Verbindung von Staat und Kirche. Das Konzept des religiös-weltanschaulich neutralen Staats in Deutschland ist geprägt durch das Modell der gleichen Teilhabe an den verfassungsrechtlichen Gewährleistungen. Aus diesem Grund wählt der Verfassungstext die neutrale Formulierung der Religionsgesellschaft bzw. Religionsgemeinschaft bei den einzelnen Gewährleistungen. Es ist somit nicht verwunderlich, dass Art. 140 GG/137 Abs. 5 Satz 2 WRV, der den Erwerb des Körperschaftsstatus für bis jetzt nicht korporierte Religionsgemeinschaften normiert, als eine "versteckte Paritätsnorm" (Martin Heckel) qualifiziert wird. Es ist demnach keine verwegene These, dass schon der Rechtszustand zur Weimarer Zeit normativ eher ein "Religionsverfassungsrecht" gewesen ist, wenngleich real die Präsenz der christlichen Kirchen dominierte, weil nahezu fast alle Staatsbürger einer dieser Kirchen angehörten. Mit der Veränderung der religiösen Verhältnisse in Deutschland wird die für religiöse Pluralität durchaus offene grundgesetzliche Ordnung virulent, weil sich die Gewichte des Verhältnisses von Staat und Religion neu austarieren müssen und die Verfassung nunmehr auch real auf die religiöse Pluralität reagieren muss.

Damit stellen sich die Fragen nach Differenzierungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten neu und in einem ganz anderen Maße, weil die grundgesetzliche Parität keine "Planierparität" ist. Gerade eine eher egalitäre Interpretation der grundgesetzlichen Normen, die bei historisch-genetischer Auslegung durchaus naheliegt, wird bei neuen Religionen, religiösen Richtungen oder Bewegungen in nicht wenigen Fällen auf Grenzen stoßen müssen, weil Parität keineswegs nach blauäugiger Gleichmacherei ruft, sondern durchaus Differenzierungen einfordert, wenn die Verfassung oder andere sachliche Gründe dies nahelegen. Wo im einzelnen Grund und Grenzen eines religiösen Diversifikationsmanagements (Ladeur/Augsberg) liegen, lässt sich bspw. an muslimischen Gruppierungen verdeutlichen. Wenn es um die staatliche Förderung von Religionsgemeinschaften geht, setzt eine Gleichbehandlung etwa voraus, dass es sich bei der jeweiligen muslimischen Gruppierung wirklich um ein eine Religionsgemeinschaft im Rechtssinne handelt. Auch die Einrichtung eines islamischen Religionsunterrichts ist verfassungsrechtlich nur gefordert, wenn eine muslimische Gruppierung als Religionsgemeinschaft qualifiziert werden kann. Entsprechendes gilt für die Wahrnehmung des religionsgemeinschaftlichen Selbstbestimmungsrechts nach Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV. Ein nicht unerheblicher Differenzierungsgrund ist schließlich die Unterscheidung von Staat und Religion, weil die "Scheidung in der Wurzel" (Alexander Hollerbach) den modernen Verfassungsstaat fundiert.

Unterzeichnung des Reichskonkordats in Rom am 20. Juli 1933. Sitzend v. l. n. r.: Prälat Ludwig Kaas, Vizekanzler Franz von Papen, Kardinal-Staatssekretär Eugenio Pacelli (später Papst Pius XII.), Ministerialdirektor Buttmann und Botschaftsrat Klee. Stehend v. l. n. r.: Erzbischof Giuseppe Pizzardo, Erzbischof Alfredo Ottaviani und Giovanni Baptista Montini (später Papst Paul VI.)
Im Übrigen zeigt sich, dass die Religionsfreiheit zu einem Gutteil - fast notwendigerweise - nicht nur individuell, sondern auch institutionell ist. Sie beruht auch auf einer religiös-sprachfähigen Organisation, die sich der allseitigen Pflege der durch die Religion gestellten Aufgaben annimmt. Exemplarisch lässt sich die Verkoppelung von Individualität und Institutionalität, Religionsfreiheit und institutioneller Gewährleistung an der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Anstaltsseelsorge in Art. 140 GG/141 WRV ablesen.

Sofern ein Bedürfnis nach Seelsorge und Gottesdienst bei den "Anstaltsunterworfenen" besteht, haben die Religionsgemeinschaften ein Zutrittsrecht zu den entsprechenden Einrichtungen. Die Militärseelsorge dient vorrangig der Verwirklichung der Religionsfreiheit der Soldaten, die sich während ihrer Dienstzeit in einem "besonderen Gewaltverhältnis" (Sonderstatusverhältnis) befinden und deshalb in ihrer Freizügigkeit u. a. nicht unerheblich eingeschränkt sind. Die Verfassungsbestimmung verdeutlicht, dass die Bedürfniserfüllung auf eine konkrete Religionsgemeinschaft angewiesen und auf sie bezogen ist, selbst wenn es sich bei der Seelsorge weniger um eine kollektive kultische Handlung als vielmehr um ein individuelles Geschehen handelt, bei dem ein Mensch den Rat und den Beistand eines Seelsorgers sucht.

Es ist in der Literatur dabei umstritten, ob die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Militärseelsorge, die genau genommen nur ein Betretungsrecht von Kasernen und anderen Orten, an denen sich die Soldaten befinden, normiert, eine Obergrenze oder einen Mindeststandard festschreibt. Die Verfassung normiert den Mindeststandard. Eine strengere Auslegung würde die finanzielle Förderung der Militärseelsorge unterbinden und damit Fördermöglichkeiten verbieten, die selbst in Ländern mit strikter Trennung von Staat, Kirche und Religion in dieser Rigidität nicht praktiziert werden.
Die bestehende Organisationsform der Militärseelsorge für die Bundeswehr verdankt sich aber weniger verfassungsrechtlichen Vorgaben. Der Staat ist nicht gehindert, über das bloße Zutrittsrecht hinauszugehen und ein besonderes Ordnungsarrangement der Militärseelsorge zu schaffen. Die genaue Form des Zusammenwirkens von Staat und Kirche wird - wie auch in anderen Bereichen des Staat-Kirche-Verhältnisses - in diesem besonderen Seelsorgesektor durch Staatskirchenverträge geregelt, die in der Normenhierarchie unterhalb der Verfassung anzusiedeln sind. Anders als für den Bereich der evangelischen Militärseelsorge ist die katholische Militärseelsorge nicht in einem "Grundlagenvertrag" gebündelt, sondern wird durch ein nicht einfach zu durchschauendes Geflecht von Rechtsregelungen umschrieben.

Staatskirchenvertrag Brandenburg / Staatsvertrag mit dem Heiligen Stuhl: Der Apostolische Nuntius in Deutschland, Erzbischof Erwin Josef Ender, und Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) tauschen im Mai 2004 in der Berliner Nuntiatur die Ratifikationsurkunden für das Abkommen aus.
Während ein Teil des Art. 27 Reichskonkordat Personalfragen normiert, trifft Art. 27 Abs. 4 RK für die Kirche einen organisatorischen Regelungsauftrag, der durch ein Apostolisches Breve zu erfolgen hat. Aktuell maßgeblich sind insofern die Päpstlichen Statuten von 1990, über deren rechtliche Qualität etwa beim Umzug des Militärbischofs von Bonn nach Berlin heftig gestritten wurde. Die (völkervertrags)rechtliche Qualifizierung des vertraglichen Regelungsgeflechts von Konkordat - Breve/Statuten - Notenwechsel ist komplex und kann nicht in wenigen Worten erfolgen. Man wird die Päpstlichen Statuten, soweit sie Rechte und Pflichten zwischen Staat und Kirche betreffen, nicht als völkerrechtliche quantité négligeable und etwa als bloß innerkirchliche Rechtsquelle qualifizieren können. Die Statuten wiederum müssen in Zusammenhang mit dem Notenwechsel gesehen werden, der ihr Inkraftsetzen rechtlich begleitet, weil dieser Notenwechsel wiederum völkervertragsrechtlich nicht unerheblich ist. So komplex und vielleicht auch kompliziert die Ausgestaltung der Militärseelsorge durch das Staatskirchenvertragsrecht ist, so zeigt sich an ihr wiederum die bereits apostrophierte Verbindung von Religion und Institution, die in besonderer Weise auf die schiedlich-friedliche Kraft der Kooperation setzt.

Der Bezeichnungsstreit zwischen Staatskirchenrecht und Religionsverfassungsrecht ist nicht ohne Grund als ein begriffspolitischer gekennzeichnet worden. Unmittelbar normative Bedeutung kommt den Bezeichnungen nicht zu. Es mögen sich begriffspragmatische Gründe für die eine oder andere Umschreibung anführen lassen. Eine solche stark vergrundrechtlichende Sichtweise steht aber in der Gefahr, die fein austarierte grundgesetzliche Ordnungskonfiguration zwischen Individualität und Institutionalität im Zeichen der Religionsfreiheit zu unterminieren. Eine Ordnung, die sich gerade wegen ihrer kontinuierlichen Flexibilität und ihrer Offenheit auch für neue religiöse Phänomene bewährt hat und insgesamt bewahrenswert ist.

PD Dr. Ansgar Hense, Dresden/Bonn,
Institut für Staatskirchenrecht