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Aus der Erfahrung staatlich verübten Unrechts geboren

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vor 60 Jahren

von Prof. Dr. Konrad Hilpert, Lehrstuhl für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München

Papst Benedikt XVI. fordert in einer eindrucksvollen Grundsatzrede vor der UNO in New York eine Stärkung der Menschenrechte sowie mehr vorbeugende Konfliktlösung, 18. April 2008.
Am 10. Dezember 1948 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen als Resolution 217 die Allgemeine Menschenrechtsdeklaration. Ein Akt von historischer Bedeutsamkeit, insofern sich die Mitgliedstaaten der UN hiermit verpflichteten, die Menschenrechte als Aufgabe der internationalen Völkergemeinschaft zu betrachten und nicht mehr nur wie bislang als die der einzelnen Staaten. Aber auch ein Akt von zunächst nur sehr beschränkter Kraft, insofern man sich bloß auf eine „Deklaration“ einigen konnte und nicht darauf, den erklärten Rechten auch Sanktionsmittel an die Seite zu stellen, die sie bei Widerständen und Verletzungen durchsetzbar machen würden. Dennoch ist die weitere Entwicklung des Völkerrechts in den folgenden Jahrzehnten genau diesen Weg gegangen und hat teils einzelne Rechte, teils ganze Gruppen von Rechten auf der Grundlage und mit Bezugnahme auf die Erklärung von 1948 mittels einer stattlichen Reihe von internationalen und regionalen Verträgen zu völkerrechtlicher Verbindlichkeit bringen können.

Die Idee der Menschenrechte selbst und Versuche, sie prinzipiell zu formulieren sowie ihnen einen prominenten Stellenwert einzuräumen, sind schon viel älter und reichen wenigstens bis ins 18. Jahrhundert zurück; ja, in manchen Elementen bauten sie sogar auf Vorstellungen des Humanismus und der Antike auf. Als weltweites Ideal und als moralische Verpflichtung der Politik dringlich und zustimmbar wurden sie aber erst durch das Erleben des 2. Weltkriegs und die Wahrnehmung der fürchterlichen Zerstörungen an Menschen, Kultur und Gesellschaft, die das nationalsozialistische Regime verursacht hatte. Das Entsetzen darüber hat im Text der Erklärung deutliche Spuren hinterlassen, wenn etwa in der Präambel als Grund für die Erklärung genannt wird, dass „Verkennung und Missachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei“ geführt hätten, „die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben“, dass die Menschenrechte „durch die Herrschaft des Rechtes“ geschützt werden sollen, „damit der Mensch nicht zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung als letztem Mittel gezwungen wird“, und dass „die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen“ gefördert werden solle. Das Erleiden von Verfolgung und Ausrottung, das durchorganisierte tyrannische System des totalitären Staates und die beiden Weltkriege mit ihren zig Millionen von Gefallenen, Versehrten und Geschädigten erscheinen hier als Bild dessen, was unabhängig von allen nationalen, ethnischen und religiösen Unterschieden „nie wieder“ geschehen darf und die Achtung der Menschenrechte als Weg, diesen Willen nicht nur Wunsch bleiben zu lassen, sondern auch zu politischer Wirksamkeit zu bringen.

Pressekonferenz zur Erklärung der Menschenrechte in Paris: Eleanor Roosevelt, Vorsitzende der Menschenrechts - Kommission, und Dr. Charles Malik, 7. Dezember 1948.
Zu denen, die aktiv an Entwürfen und konzeptionellen Vorüberlegungen der Erklärung beteiligt waren, gehörten auch engagierte Christen wie Jacques Maritain und ökumenisch gesinnte Gruppen wie die jüdisch-christliche Konferenz und ein Kreis prominenter amerikanischer Katholiken. Ausformuliert wurden sie durch eine Kommission der UN, die damals erst 48 Mitgliedsstaaten hatte, unter Vorsitz der Witwe des 1945 verstorbenen amerikanischen Präsidenten, Eleanor Roosevelt. Die offizielle und vorbehaltlose Zustimmung seitens der katholischen Kirche bekamen die Menschenrechte 1963 durch die Enzyklika „Pacem in terris“ von Papst Johannes XXIII. Darin wurden sowohl die Gründung der Vereinten Nationen wie auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als „Zeichen der Zeit“ gewürdigt, was ja soviel heißt wie als Ereignisse und Vorgänge der Gegenwart, in denen sich ein Anruf Gottes verbirgt, der im Licht des Evangeliums zu deuten ist (so das II. Vatikanum).

Das Dokument „Pacem in terris“ war aber nicht bloß ein Akt nachholender Anerkennung, die (was heute vielfach bedauert wird) wegen der Vorbehalte aus der Tradition (Die Menschenrechte galten aus kirchlicher Sicht als Produkt der Französischen Revolution!) nicht eher zustande gekommen war. Vielmehr nutzte Papst Johannes XXIII. die Gelegenheit, im Zusammenhang ihrer Darlegung auch selber Akzente zu setzen. So betonte er ihren universellen Geltungsanspruch schon dadurch, dass er seine Enzyklika nicht nur an die Bischöfe und an den Klerus richtete, sondern auch an „die Christgläubigen des ganzen Erdkreises sowie an alle Menschen guten Willens“. Als Grund dafür, dass die Menschenrechte „allgemein, unverletzlich und unveränderlich sind“, nennt er, dass „sie unmittelbar aus der Würde der menschlichen Person entspringen“ (Nr. 145). Während die Erklärung von 1948 fast ausschließlich individuelle Freiheitsrechte auflistet, spricht „Pacem in terris“ auch ausführlich von sozialen und kulturellen Teilhaberechten. Im Zusammenhang der Rechte wird ferner deutlicher als 1948 auch von Pflichten gesprochen.

Eleanor Roosevelt hält ein Plakat der Erklärung der Menschenrechte, 1. November 1949.
Die Deklaration von 1948 hatte in ihrer Präambel die Anerkennung der Würde und der gleichen Rechte als „die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ herausgestellt. „Pacem in terris“ fokussierte seine Darlegungen noch stärker auf die Frage der Begründung und Sicherung des Friedens. Als dessen Garantie erscheint nicht mehr die Beachtung der Lehre vom sog. gerechten (das meint in heutiger Sprache: verantwortbaren) Krieg, sondern die Durchsetzung der Menschenrechte. Die tiefe Sehnsucht nach Frieden war auch hier die Befindlichkeit der Welt, auf die das Dokument eine Antwort geben wollte. Allerdings war ihr konkreter Anlass weniger das Schreckliche, das man vor zwei Jahrzehnten überstanden hatte, als vielmehr die gegenwärtige bedrohliche Konfrontation, die sich sowohl in der Kubakrise als auch im Bau der Berliner Mauer unheilvoll zuspitzte und einen atomaren Krieg befürchten ließ.

Seitdem Johannes XXIII. den Menschenrechten vorbehaltlos zugestimmt und ihnen eine zentrale Bedeutung für die Ordnung des Zusammenlebens zugesprochen hat, ist das Thema Menschenrechte und das Eintreten für sie aus der kirchlichen Sozialverkündigung nicht mehr wegzudenken. So gut wie kein kirchliches Dokument der nachfolgenden Päpste, das zu Fragen der sozialen und politischen Ordnung Stellung bezogen hat, unterlässt es, sich auf sie zu beziehen und sie emphatisch zu bekräftigen. Auf diese Weise sind sie, wie man ohne Übertreibung sagen kann, zum ethischen Bezugsrahmen der gesamten politischen Ethik, soweit sie in der Kirche vorangetrieben wird, geworden.
Heute sind die beiden Weltkriege dem eigenen Erleben der Zeitgenossen fern gerückt und die Bedrohung durch einen Atomkrieg als Ergebnis der Ost-West-Konfrontation seit 1989 unwahrscheinlich.

Die Mutter eines Opfers des Massakers von Srebrenica fordert direkt nach seiner Festnahme die Auslieferung von Radovan Karadžiæ an das Haager Tribunal, 30. Juli 2008.
Sind deshalb die Menschenrechte nur noch ein Gegenstand der Erinnerung? Wer das meint, sollte sich durch die täglichen Nachrichten oder durch die Jahresberichte von amnesty international und anderer nichtstaatlicher Menschenrechtsorganisationen (Ärzte ohne Grenzen u. a.) eines anderen belehren lassen, nämlich dass – weltweit gesehen – die Verletzung der Menschenrechte Alltag ist. Terrorisierung von Teilen der Bevölkerung, Vertreibung, Verweigerung von Bildung, medizinische Unterversorgung, Diskriminierung, Bestechlichkeit von Polizei und Justiz, Folter, Frauenhandel, Verschmutzung der Trinkwasservorräte könnten eine unendlich lange Liste von Verbrechen und Verstößen anführen. Sie sind militärisch nur begrenzt unterdrückbar; aber manchmal kann militärisches Engagement wenigstens Schlimmeres verhüten und Wege zu einer Besserung der Situation sichern helfen.

Die Menschenrechte markieren unübersehbar die Maßstäbe – für die Betroffenen, was ihre elementaren Rechte sind, für die anderen und die Welt drumherum, wann Unrecht erlitten wird und Solidarität unabdingbar ist. An die Dokumente zu erinnern ist sinnvoll, wenn es uns sensibler dafür macht, wie wichtig das Engagement für die Menschenrechte als Grundlage des Friedens ist, und wachsamer für die Verletzungen hier und anderswo. Die Menschenrechte sind, genau besehen, stets etwas sehr Fragiles. Vielleicht aber lässt uns das Erinnern auch dankbarer werden für das, was wir ungeachtet aller Probleme jeden Tag für selbstverständlich nehmen, obschon es historisch und im weltweiten Vergleich gar nicht so selbstverständlich ist.