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Soziale Armut in Deutschland - der Einsatz der Caritas

von Prälat Dr. Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritasverbandes

Frankfurt am Main, Kurssturz des Dax
Armut hat viele Gesichter - weltweit. Sie reicht von Hungersnöten, dem fehlenden Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung, über gesellschaftliche Isolation, Einsamkeit bis hin zu Benachteiligung in den modernen Industriestaaten. Genauso vielfältig sind die Ursachen von Armut. Es können Naturkatastrophen sein, ein korruptes, nicht funktionierendes Staatswesen, wirtschaftliche Gründe sowie die Benachteiligung bestimmter Gruppen in einer Gesellschaft. Die kirchliche Caritas setzt sich weltweit gegen Armut und für Gerechtigkeit und selbst bestimmte Teilhabe der Menschen ein. Der Deutsche Caritasverband unterstützt mit „Caritas international“, dem Hilfswerk der deutschen Caritas, in über 160 Ländern die Caritas und andere Partner vor Ort in der Not- und Katastrophenhilfe und begleitet Projekte zur sozialen Strukturentwicklung.

Auch in Deutschland ist Armut in vielfältiger Form vorhanden. Sie betrifft besonders Familien mit mehreren Kindern, Alleinerziehende und gering qualifizierte Menschen. Dies zeigte auch der dritte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der im Sommer 2008 erschienen ist. Dieser Bericht gibt einen Überblick über die großen sozialen Entwicklungen in der Gesellschaft. Zentrale Lebenslagen der Deutschen werden dort beschrieben. Allerdings wäre ein Bericht wünschenswert, der von unabhängigen Experten erstellt wird, wie die Bischöfe es in ihrem Wort „Das Soziale neu denken“ bereits 2003 anregten. Denn so ist festzustellen, dass im Bericht Datenquellen unterschiedlich genutzt werden. Zu beobachten ist das bei der Armutsrisiko-Quote. Je nach Datenquelle sind es 13% oder 18% der Bevölkerung, die ein Armutsrisiko haben. In jedem Fall aber ist festzuhalten, dass das Armutsrisiko in unserem Land seit 1998 gestiegen ist.

Viele Menschen machen diese Entwicklung an der Einführung des Arbeitslosengeldes II (ALG II) fest, auch „Hartz IV“ genannt. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe war trotzdem sinnvoll, denn sie hat dazu beigetragen, dass „Verschiebebahnhöfe“ zwischen den Ämtern abgebaut wurden. Ziel der Reform war die Integration von arbeitslosen Menschen in den Arbeitsmarkt, statt diese auf Sozialhilfe festzulegen. Die Reform hat dazu beigetragen, dass verdeckte Armut abgebaut wurde. Problematisch ist jedoch, dass der Regelsatz für das ALG II auf dem Niveau der alten Sozialhilfe geblieben ist und nicht fortgeschrieben wurde. Außerdem finden besondere Bedarfe keine Berücksichtigung mehr.

Viele Menschen haben den Eindruck, dass die Armut in Deutschland zunimmt, dass Reiche immer reicher werden und die Mittelschicht immer stärker belastet wird, bzw. das Risiko zunimmt zu verarmen. Die Lebenshaltungskosten steigen, die Energie wird teurer und belastet das private Budget. Demgegenüber stehen Managergehälter, die von vielen als ungerecht empfunden werden – gerade angesichts der Bankenkrise und des Fehlverhaltens von Managern. Vieles an diesen Beobachtungen stimmt. Auch wenn wir nicht von einer allgemeinen Verelendung ausgehen müssen, haben wir doch alles dafür zu tun, die vorhandene Armut zu bekämpfen. Denn Menschen in prekären Lebensverhältnissen müssen genauso das Gefühl entwickeln können, dass sie Zukunftschancen haben.

Benachteiligte Kinder und Jugendliche befähigen

Kinder sind die Zukunft der Gesellschaft. Doch in der Realität sehen die Lebensmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland sehr unterschiedlich aus. Mehr als 2 Mio. Kinder in Deutschland sind arm. Wer in Armut geboren wird, hat oft nur eingeschränkte Chancen, eine Schul- und Berufsausbildung abzuschließen, später mit einem Arbeitsplatz seinen Lebensunterhalt zu verdienen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können.

Die Caritas engagiert sich seit vielen Jahren für Kinder und junge Menschen. Im Herbst 2005 initiierte der Deutsche Caritasverband eine dreijährige Befähigungsinitiative für benachteiligte junge Menschen. „Mach dich stark für starke Kinder“ war das Jahresmotto der Caritas im Jahr 2007, und 2008 lautete es „Achten statt ächten“. Es geht um benachteiligte Jugendliche, die oft nicht den gesellschaftlichen Konventionen entsprechen. Über 900 Projekte wurden zusammengestellt, in denen Kinder und Jugendliche in ihren Stärken gefördert werden. In diesen Projekten engagieren sich viele ehrenamtlich/freiwillig tätige Personen. Bundesweit beteiligen sich zahlreiche katholische Kindertagesstätten und entwickeln neue Angebote zur Befähigung benachteiligter Kinder. Auch Pfarrgemeinden, vor allem in sozialen Brennpunkten, engagieren sich in diesen Projekten. Ehrenamtliche Paten begleiten Jugendliche durch Schule und Ausbildung.

Politisch setzt sich der Deutsche Caritasverband für eine eigenständige Kindergrundsicherung ein, denn Familien brauchen auch die notwendigen materiellen Voraussetzungen für ein gelingendes Leben. Dazu gehört ein eigener Kinderregelsatz beim ALG II, der sich nicht an den Bedarfen eines alleinstehenden Erwachsenen orientiert, sondern an den Bedarfen der Kinder. Dazu brauchen wir einen deutlich verbesserten Kinderzuschlag, der es Eltern ermöglicht, nicht in die Armutsfalle zu geraten und befähigende Sachleistungen zu bekommen, die unmittelbar den Kindern zugute kommen, indem sie ein kostengünstiges Mittagessen erhalten oder einen Gutschein für Musik- oder Sportunterricht. Dies ist ein ganz konkreter Einsatz der Kirche mit ihrer Caritas gegen Armut und Ungerechtigkeit.

Besorgter Aktienhändler bei Kurssturz an der Frankfurter Börse
Mehr Bildungsgerechtigkeit als Schlüssel gegen Armut

Ein zentraler Schlüssel zur Armutsprävention ist mehr Bildungsgerechtigkeit: Im Jahr 2007 haben 7,9% aller Schulabgänger die Schule ohne einen Hauptschulabschluss verlassen. Bei den Jugendlichen ohne deutsche Staatsangehörigkeit waren es sogar 17,5%. Die Zahl der jungen Menschen ohne Berufsabschluss zwischen 25 und 30 Jahren ist in den letzten 10 Jahren von 12,7 auf 17% gestiegen.
In Deutschland fehlen jedoch überzeugende Strategien für eine sozial gerechte Gestaltung von Bildungsprozessen. Eine Bildungsreform, die sich nur mit der Frage der Schulentwicklung beschäftigt, greift zu kurz. Sie muss sich an einem umfassenden Bildungsbegriff orientieren. Dazu zählen beispielsweise auch Bildungsprozesse, die durch ehrenamtliches Engagement, in der Jugendarbeit sowie in Pfarrgemeinden stattfinden.

Jede kirchliche Schule sollte für sich klären, wie sie die Bildungschancen von benachteiligten Kindern und Jugendlichen konkret verbessern kann. Ein zentrales Ziel muss es sein, dass jeder Jugendliche einen Berufsabschluss erreicht. Jugendliche aus sozial schwierigen Verhältnissen brauchen bereits früh Unterstützung und Angebote zur Berufsorientierung und -vorbereitung.

Einsatz gegen Armut als Auftrag aller Christen

Dieser Einsatz ist eine zentrale Aufgabe der Caritas, dem Dienst der Kirche an und mit notleidenden Menschen. Papst Benedikt XVI. sagt dazu in seiner Enzyklika „Deus Caritas est“, mit der er alle Christen ansprechen möchte, dass „die in der Gottesliebe verankerte Nächstenliebe … zunächst ein Auftrag an jeden einzelnen Gläubigen [ist], aber … ebenfalls ein Auftrag an die gesamte kirchliche Gemeinschaft.“ (20) Dieser Auftrag ist aber nicht beliebig. „Der Liebesdienst ist für die Kirche jedoch nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte, sondern er gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst.“ (25) Deshalb freue ich mich, dass viele Pfarrgemeinden, auch in der Gestaltung der neuen pastoralen Räume, zusammen mit der verbandlichen Caritas die Diakonie wieder neu für sich entdecken. Dieser Einsatz für Benachteiligte und soziale Gerechtigkeit verbindet außerdem die beiden großen christlichen Kirchen zutiefst. Papst Johannes Paul II. schrieb in seiner Enzyklika „Ut unum sint“ im Jahr 1995, dass gerade durch die Zusammenarbeit der Christen auch im sozialen Bereich „die Verbundenheit, in der sie schon untereinander vereinigt sind, lebendig zum Ausdruck“ (40) kommt.

Siehe auch: www.dbk.de

„Die Armut bekämpfen, den Frieden ausbauen. Welttag des Friedens 2009“ Reihe Arbeitshilfen Nr. 229, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz
Bonn, November 2008