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Erinnerung. Meinem Vater zum 75. Geburtstag

Dr. Matthias Gillner Dozent für Katholische Sozialethik an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg
Die Zeichen der Zeit stehen eher auf Vergessen. An dieser Diagnose ändern auch die alljährlich wiederkehrenden politischen Gedenkfeiern und die gerade boomende Literatur persönlicher Lebenserinnerungen nur wenig. Der Vorrang technischer vor wertgebundener Rationalität, die Priorität experimenteller Phantasie vor vergewisserndem Eingedenken oder die Dominanz flüchtiger, punktueller Aufmerksamkeit erschweren den Umgang mit individuellen Geschichten und gesellschaftlichen Überlieferungen. Und doch: Die Erinnerung gehört unaufhebbar zu unserem Menschsein; sie stiftet Identität und ermöglicht Humanität. Ohne Erinnerung gibt es keine tragfähige Orientierung in der Welt, ohne Erinnerung ist verantwortliches Handeln nicht denkbar.

Erinnerung als Pathos und Praxis

Für die klassische antike Philosophie ist (Wieder-)Erinnerung (anamnêsis) ein grundlegender Begriff, für Platon begründet die erinnernde Schau wahrer Ideen Erkenntnis überhaupt; als bildhafte Vergegenwärtigung ermöglicht sie die Anwesenheit von Abwesendem. Um eine Verwechslung zwischen Gedächtnis und Einbildungskraft zu vermeiden – Imaginieren zielt auf das Unwirkliche – bezieht Aristoteles die Erinnerung auf eine zeitlich vorhergehende Realität. Eine bleibende Bedeutung hat seine Unterscheidung zwischen „passiver“ Präsenz und „aktiver“ Suche. Sich erinnern heißt zunächst: eine Erinnerung haben. Dabei kann das plötzliche Aufsteigen einer Erinnerung nicht nur wohltuend empfunden, sondern auch – als „unerbittliches Gedächtnis“ – schmerzhaft erlitten werden. Erinnern bedeutet aber auch: sich etwas in Erinnerung rufen. Als anstrengendes Bemühen kämpft es gegen das Vergessen; im Falle des Gelingens sprechen wir vom „glücklichen Gedächtnis“ (Ricœur). Bei traumatischen Erlebnissen dagegen wird Gedächtnis verhindert, anstelle der Erinnerung tritt die „Wiederholung“, die Reproduktion des Vergessenen. Nur eine langfristige therapeutische „Erinnerungsarbeit“ (Freud) kann schwerwiegende Blockaden beseitigen.

Individuelles, kommunikatives und kulturelles Gedächtnis

Erinnerungen beruhen zwar auf individuellen Erfahrungen, sie sind aber immer auch sozial bedingt (Halbwachs) und kulturell geformt (Assmann), sie entstehen durch Kommunikation in gemeinschaftlichen Kontexten und partizipieren an geteilten Traditionen. Erinnerung stiftet Identität für Menschen, Gesellschaften und Gruppen. Als individuelles Tun sichert sie persönliche Identität und als soziale Praxis ermöglicht sie, dass eine Gruppe, obgleich sich verändernd, sich dennoch als die Gleiche verstehen kann. Schließlich wird durch Erinnerung an überlieferte Riten, Texte und Bilder eine kollektive Identität über Generationen fortgesetzt.
Mit Blick auf Nationen oder Ethnien gibt es im engeren Sinne auch ein „politisches Gedächtnis“, das mit Jahrestagen, Mahnmalen oder Museen institutionell gestützt wird. Auf dieser Ebene allerdings besteht eine große Gefahr des Missbrauchs. Die selbstbezügliche Erinnerung an einseitig erlittene Demütigungen und Verletzungen, das eitle Kultivieren traditioneller Feindbilder und historischer Rivalitäten behindern wechselseitige Verständigung und führen nicht selten zu inner- und zwischenstaatlichen Kriegen.

"Gefährliche Erinnerung“

Der christliche Glaube übernimmt die anamnetische Kultur seiner jüdischen Schwestern und Brüder, er ist im Kern Erinnerung an das Leiden, den Tod und die Auferstehung Jesu Christi. Diese Gedächtnisverfassung hat er in liturgischen Feiern und religiösen Gebräuchen bewahrt und entfaltet. Die kultische Erinnerung wird zu einer „gefährlichen Erinnerung“, wenn sich die Passionsgeschichte Jesu mit der anonymen Leidensgeschichte der Welt verbindet und sie die „im Glauben an die Auferweckung der Toten und des Gerichts enthaltene Frage nach Gerechtigkeit für die ungerecht Leidenden, für die ungesühnten Opfer und Besiegten der Geschichte“ (Metz: Memoria compassion, 2006, 89) wachhält.

Dr. Matthias Gillner
Dozent für Katholische Sozialethik
an der Führungsakademie der
Bundeswehr in Hamburg