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Was ist eigentlich Krieg?

von Prof. Dr. Michael Brzoska

Ein Soldat überwacht mittels hochmoderner Radartechnik den Luftraum
Foto: © dpa – Report
In Afghanistan wird gekämpft. Tausende von Zivilisten sind umgekommen. Die Bundeswehr ist, wenn auch geografisch wie operativ nur am Rande, an Kampfhandlungen beteiligt. Deutsche Soldaten sind in Afghanistan gefallen.

Deutschland führe keinen Krieg in Afghanistan, argumentiert Bundesverteidigungsminister Jung. Die ehemaligen Verteidigungsminister Rühe, Scharping und Struck dagegen sprechen von einem Krieg der NATO gegen den Terrorismus in Afghanistan.

Die unterschiedlichen Auffassungen spiegeln die Schwierigkeit mit dem Begriff Krieg, der ein gesellschaftliches Phänomen erfassen, abgrenzen und für den Umgang mit ihm erschließen soll. Wirklich ein gesellschaftliches Phänomen? Dazu vier kurze Ausflüge in die Historie der Diskussion um den Begriff des Krieges:

1. Hugo Grotius, häufig als der "Vater des Völkerrechts" bezeichnet, beschrieb in seinem "De Jure Belli ac Pacis" (1625) Krieg ganz allgemein als "Zustand des Parteienstreites", wir würden heute sagen: Konflikt.

2. Die gedankliche Trennung von Krieg und Gewalt, die Grotius vorstellt, findet sich, wenn auch eingeschränkter, im "Leviatan" von Thomas Hobbes (1651), mit seinem berühmten Diktum des "Krieges aller gegen alle". Krieg wird hier mit dem "Naturzustand" gleichgesetzt, in dem es keine durch die Gemeinschaft durchgesetzte Ordnung gibt, und jederzeit für jeden die Gefahr besteht, Opfer von Gewalt zu werden.

3. Carl von Clausewitz schrieb Anfang des 19. Jahrhunderts vom Krieg als "wahrem Chamäleon", das in vielfältiger Gestalt erscheinen könne. Gleichwohl hatte Clausewitz eine relativ klare Vorstellung von dem was Krieg ist und was nicht. Richtpunkt ist seine "absolute Gestalt" als "Akt der Gewalt", der in seiner Anwendung keine Grenzen kennt und zum Äußersten drängt. Er ist "erweiterter Zweikampf" bewaffneter Verbände, in denen es um die "Fortsetzung der Politik" geht. Scharmützel oder Bandenkämpfe sind für Clausewitz kein Krieg.

4. Die Charta der Vereinten Nationen verbietet nach gängiger Auffassung den Angriffskrieg. Aber welchen Krieg? Artikel 2, Paragraph 4 lautet: "Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt". Krieg ist nach der Charta der Vereinten Nationen die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Staaten.

Ein stark beschädigtes deutsches Fahrzeug nach einem Selbsmordanschlag, Nordprovinz von Baghlan, 16. Oktober 2008
Foto: © ullstein bild – Reuters
Offensichtlich erfassen die benannten Begriffe vom Krieg unterschiedliche gesellschaftliche Phänomene. Für Grotius ist er dem Konflikt gleichzusetzen, ob nun gewaltförmig oder nur gewaltträchtig. Hobbes, der in wahrlich unsicheren Zeiten lebte, sieht den Krieg als Abwesenheit von staatlicher Ordnung. Für Clausewitz, den General, ist er die militärische Anstrengung. Für die Autoren der Charta der Vereinten Nationen ist er der bewaffnete Kampf zwischen den Staaten.

Die benannten Begriffe spiegeln auch eine zunehmende Trennung von Krieg und Frieden zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert. Die Konsolidierung des modernen Staates mit der Durchsetzung seines Gewaltmonopols führte zu einer Zivilisierung der Ordnung nach innen, mit schwach bewaffneter Polizei und einem innerstaatlichen Ordnungsrecht, das die Anwendung von Gewalt nur im Extremfall vorsah. Auch die Gewaltanwendung nach außen wurde zunehmend verrechtlicht, bis hin zum Verbot des Angriffskriegs in der Charta der Vereinten Nationen.

Spuren des Grotianischen oder Hobbesianischen, ganz zu schweigen Clausewitzianischen Kriegsbegriffs finden sich immer noch sehr häufig. So wird vom Krieg gegen den Analphabetismus gesprochen, ebenso wie vom Krieg von Autofirmen untereinander. Drohende Rohstoffknappheit oder Klimawandel werden ganz urwüchsig als Indikatoren für zukünftige Kriege gegeben - als gäbe es das Verbot des Angriffskrieges nicht. Zumindest in freien Gesellschaften kann niemandem verwehrt werden, das Wort Krieg so zu benutzen, wie sie oder er es für richtig hält. Aber für die Verständigung untereinander ist es hilfreich, sich darauf zu verständigen, welche Phänome ein Begriff erfassen soll und welche nicht.

Ein Lebensbereich, in dem eine exakte Begriffsbestimmung notwendig ist, ist die Kriegsursachenforschung. Sie muss festlegen, wovon sie spricht, auch wenn dies dann im Einzelnen unterschiedliche Phänomene bedeuten kann. In allen gängigen Definitionen von Krieg finden sich drei Elemente wieder: erstens die Schlacht, der Kampf bewaffneter Verbände gegeneinander, zweitens die strittigen politischen Zielsetzungen der kriegführenden Parteien und drittens die Beteiligung des Staates auf mindestens einer Seite. Unterschiede finden sich insbesondere in der Frage der Intensität der Kampfhandlungen - in einigen Definitionen wird eine Mindestzahl von Gefallenen festgelegt, bevor von einem Krieg gesprochen wird, in anderen werden keine Zahlen vorgegeben.

Nachkriegsbehausung in Düsseldorf, 1955
Foto: © ullstein bild – Imagno
Es ist illustrativ festzuhalten, welche gesellschaftlichen Phänomene nach diesen gängigen Definitionen nicht Krieg sind. Die Invasion in einem anderen Staat ohne dessen Gegenwehr - Stichwort Prag 1968 - ist kein Krieg. Der Genozid in Ruanda 1994 war ebenso wenig Krieg wie die Terroranschläge des 11. September 2001. In beiden Fällen fehlte es an Kämpfen bewaffneter Verbände gegeneinander. Einen Krieg gegen Gruppen, die nur terroristisch vorgehen, kann es nach dieser Definitionen nicht geben, da sie ja gerade dem "erweiterten Duell" auf dem Schlachtfeld ausweichen.

Nicht nur für die Wissenschaft ist die Unterscheidung von Krieg und Nicht-Krieg wichtig. Die Erklärung, dass ein Phänomen "Krieg" ist, hat weitreichende praktische Auswirkungen.

Das hat viel mit der seit Grotius weit vorangeschrittenen rechtlichen Unterscheidung von Krieg und Frieden zu tun. Versicherungen etwa enthalten häufig die Klausel, dass sie im Kriegsfall nicht leisten. Gänzlich andere Grundsätze und Gesetze regeln den Gebrauch von Zwangsmitteln, insbesondere Waffen, in Krieg und Frieden. Soldaten dürfen sich anders verhalten als Polizisten.

Insbesondere seit dem 11. September 2001 wird häufig hinterfragt, ob die Regeln, die für den Krieg gemacht wurden, nicht auch auf weitere Phänomen ausgedehnt werden sollten, insbesondere den Völkermord und den Terrorismus. In beiden Fällen spricht manches dafür, aber auch vieles dagegen.

Inzwischen ist es weitgehender Konsens, dass es die Verantwortung der gesamten Menschheit ist, wenn irgendwo auf der Welt ein Völkermord geschieht. Diese "Schutzverantwortung" kann aber nicht voraussetzungs- und grenzenlos sein. Insbesondere unterliegt die Entscheidung über einen Krieg gegen Völkermörder in der überwiegenden Mehrheit der Staaten dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.

Die Anwendung militärischer Instrumente gegen potenzielle Terroristen ist bekanntlich besonders umstritten. Im Inneren von Staaten, die sich als Ziel von Terroranschlägen sehen, wie etwa der Bundesrepublik Deutschland, hätte sie weitreichende Folgen für das rechtsstaatliche Gefüge, ohne dass ihr Vorteil gegenüber polizeilichen und geheimdienstlichen Methoden erwiesen wäre. In Staaten, in denen sich terroristische Gruppen aufhalten, machen militärische Mittel nur dann Sinn, wenn sich diese Gruppen dem Kampf stellen, also gerade nicht mit terroristischen Mitten vorgehen.

Und was heißt das nun für Afghanistan? In Afghanistan herrscht nach gängiger Definition Krieg, ein Krieg, an dem Deutschland beteiligt ist. Niemand kann allerdings verpflichtet werden, diese gängige Definition zu übernehmen, sondern kann sich eine eigene zurechtlegen. Sie oder er muss sich allerdings dann nicht wundern, wenn dies als politisches Wunschdenken angegriffen wird.

Prof. Dr. Michael Brzoska,
Wissenschaftlicher Direktor
am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg