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Ein Historiker wird einen anderen Kriegsbegriff haben als ein Völkerrechtler | Prof. Dr. Herfried Münkler, Lehrstuhl Theorie der Politik, Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin
Foto: privat | Kompass: Im vergangenen Jahr hat es mehr Kriege und gewaltsame Auseinandersetzungen in der Welt gegeben als 2007. Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung zählt in einem "Konfliktbarometer" 345 Krisen und insgesamt neun ausgewachsene Kriege. Auch Europa blieb nicht verschont. Wo verläuft eigentlich die Trennlinie zwischen Krise, Konflikt und Krieg?
Professor Münkler: Im Prinzip ist die Frage, was Krieg "ist", nicht zu beantworten. Beantworten lässt sich hingegen, wie Krieg in bestimmten Gesellschaften und zu bestimmten Zeiten definiert und gegen den Komplementärbegriff des Friedens konturiert wird, von welchen politischen Voraussetzungen die Plausibilität dieser Definition abhängig ist und welche Orientierungs- und Regulationsfunktion mit dieser Definition verbunden wird.
Neben diesen historisch-konkreten, in der Regel juridisch gefassten Definitionen von Krieg gibt es dann freilich noch eine transhistorisch-universale Vorstellung von Krieg, die uns erlaubt, so unterschiedliche Vorgänge wie den von Homer beschriebenen Troja-nischen Krieg, den Dreißigjährigen Krieg in Mitteleuropa, die Indianerkriege an der amerikanischen Frontier, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, den Krieg an den Großen Seen in Afrika oder die jugoslawischen Zerfallskriege der 1990er Jahre allesamt als Krieg zu bezeichnen. Diese Mehrdeutigkeit des Kriegsbegriffs, die Polysemie von Krieg, macht eine der Schwierigkeiten beim Sprechen über Krieg aus: Ein Historiker wird in der Regel einen anderen Kriegsbegriff haben als ein Völkerrechtler, ein Pazifist einen anderen als ein mit Konfliktschlichtung befasster Politiker. Und daneben gibt es noch die Vorstellung vom Krieg, die durch das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft geprägt ist.
Man kann dem Problem jedoch nicht beikommen, indem man eine Definition nach den Vorgaben der Wissenschaft "erfindet", etwa: "Krieg soll heißen …" Erstens würde ein solcher Terminus technicus seine Verbindung mit dem politischen Alltagsverständnis verlieren, und zweitens würde er permanent von neuen Entwicklungen herausgefordert, die zu permanenten Neudefinitionen zwingen. Nach manchen Definitionen war der Li-banonkrieg vom Sommer 2006 gar kein Krieg, aber im kollektiven Gedächtnis hat er sich als Libanonkrieg festgesetzt. Das hat vermutlich auch mit der Intensität von Bildern zu tun, die alle begrifflich-definitorischen Trennlinien überschwemmen. Wer über "Krieg" sprechen will, muss sich diesen Problemen stellen.
Wir müssen darum Konfliktbarometer, wie das des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung oder die Analysen der Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKuF) mit Vorsicht betrachten. Sie sind Analyseinstrumente, aber keine direkte Abbildung von Wirklichkeit. Trennlinien zwischen Krisen, Konflikten und Kriegen werden gemäß theoretischen Vorgaben definiert. Und die wiederum folgen dem sinnvollen Imperativ, an der Trennlinie zwischen Krieg und Frieden begriffliche Abstufungen vorzunehmen, die differenzierte politische Reaktionen ermöglichen. Das ist wichtig und nicht selten friedenssichernd. Aber es kann auch zu einem begrifflichen Eiertanz führen, bei dem das staunende Publikum das begriffliche Kriegsvermeidungsgebaren der Politik als bloß lächerlich empfindet. Nicht nur im Umgang mit dem Krieg ist Takt der Urteilskraft vonnöten, sondern auch im Umgang mit dem Kriegsbegriff. Ersteres findet man bei Clausewitz thematisiert, letzteres bei Kant. Heißt: Wer nach objektiven Trennlinien sucht, wird sich im Irrgarten der Begriffe verlaufen.
| Foto: © ullstein bild – adoc-photos | Kompass: Gerade in Deutschland und - natürlich auch bei unseren europäischen Nachbarn - werden mit dem Begriff Krieg Erinnerungen wach, die eng verbunden sind mit dem unendlich großen Leid und Sterben im 2. Weltkrieg. Von daher mag es rühren, dass es in der Politik und in der Bevölkerung Vorbehalte mit Blick auf seinen Gebrauch gibt. Nun hat sich spätestens seit den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 und den damit einhergehenden militärischen Reaktionen Erhebliches verändert. Besagt "asymmetrische Kriegsführung" nichts anderes als Krieg?
Professor Münkler: Das kollektive Gedächtnis einer politischen Gesellschaft und die politisch-juridischen Begriffserklärungen kollidieren nun einmal. Aber auch die unterschiedlichen Gedächtnisse politischer Gesellschaften kollidieren miteinander. Für einen US-Amerikaner bedeutet Krieg eben etwas anderes als für einen Deutschen oder einen Polen oder einen Russen. Und für die Generation meiner Eltern und Großeltern bedeutet Krieg etwas anderes als für die Generation meiner Kinder. Schließlich kommt hinzu, ob man Krieg "am eigenen Leibe" erfahren hat oder per Zeitungsbericht und Fernsehbilder. Die Generation derer in Deutschland, die noch starke Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg hat, stirbt weg, nachdem sie vor einem Jahrzehnt bereits die politische Bühne verlassen hat. Damit verändern sich auch die Erinnerungskontexte. Und mit diesen veränderten Erinnerungskontexten erhalten wir auch einen anderen Blick auf die Streitkräfte. Sie bekommen eine stärker instrumentelle Qualität. Sie werden zu einem Mittel, das viel Geld kostet und das diese Kosten rechtfertigen muss - nicht mehr, wie bis 1989/90, durch die Verhinderung des großen Kriegs in Europa, sondern durch seine Frieden schaffenden Fähigkeiten an den Rändern und Peripherien Europas.
Nun zum Problem der Asymmetrie: Asymmetrische Kriege sind nichts Neues, sondern ein altes Problem. Aber unser kollektives Gedächtnis und der Blick auf die Kriege in Europa haben uns symmetrische Kriege als Regelfall erscheinen lassen. Die Eroberungskriege der Konquistadoren und Kolonisatoren waren zutiefst asymmetrisch. Auch der Sieg eines germanischen Stammesbündnisses über die römischen Legionen im Teutoburger Wald vor 2.000 Jahren war Ergebnis einer asymmetrischen Konfrontation. Der im römischen Heeresdienst ausgebildete Arminius wusste nur zu gut, dass "seine" Germanen in einer symmetrischen Konfrontation, einer offenen Feldschlacht, keine Chance gegen die Römer hatten. Dagegen war das nukleare Patt der beiden Supermächte die zum Äußersten getriebene Symmetrie; sie wurde sichtbar in den Gegenüberstellungen der blauen und roten Panzer, Flugzeuge, U-Boote, Interkontinentalraketen etc.
| Abschied von den zwei bei einem Selbstmordanschlag getöteten Kameraden, Kunduz, 22. Oktober 2008
Foto: © ullstein bild – ddp | Die Aufmerksamkeits-Fokussierung auf Symmetrie hat den Schock der hereinbrechenden Asymmetrie bewirkt, vor allem natürlich mit dem 11. September. Aus der Perspektive der Angreifer ist das Krieg. Wie sich die Angegriffenen dazu verhalten, ist eine Frage politischer Rationalität. Regierungen können die Reaktion darauf unterhalb der Kriegsschwelle zu halten versuchen, aber dann bekommen sie vermutlich Probleme mit ihrer eigenen Bevölkerung, die sich mit Krieg überzogen fühlt. Napoleon hat gemeint, man könne Partisanen nur nach Partisanenart bekämpfen. Was heißt das mit Blick auf Terrornetzwerke? Nicht in Afghanistan intervenieren, nicht versuchen, dort einen einigermaßen stabilen und verlässlichen Staat aufzubauen, sondern mit Spezialeinheiten, Söldnern, gekauften Stammeskriegern etc. die Strukturen von al-Qaida angreifen. Und das alles möglichst unsichtbar für die eigene Bevölkerung. Das wäre eine Resymmetrierung der asymmetrischen Herausforderung gewesen. Teilweise ist im Übrigen so reagiert worden. Aber das "nation building" in Afghanistan folgte einer anderen Idee: Aufbau von Staatlichkeit als Garant von Reziprozität; Reziprozität als Voraussetzung symmetrischer Beziehungen. Asymmetrie sollte man nicht nur im Hinblick auf den Krieg durchdenken, sondern ebenso im Hinblick auf den Frieden.
Kompass: Was bedeutet dies nun für die Soldatinnen und Soldaten, die in Einsätzen z. B. in Afghanistan ums Leben kommen? Ist es Ihrer Meinung nach richtig, diese als "gefallene oder verwundete Soldaten" zu ehren, obwohl immer zu hören und zu lesen ist, Deutschland befinde sich nicht im Krieg?
Professor Münkler: Die Semantik des "Fallens" und der "Verwundung" ist im kollektiven Gedächtnis der Deutschen stark durch die beiden Weltkriege geprägt. Sie ist also nicht bloß an die Vorstellung des stellvertretenden Opfers, sondern auch an die einer spezifischen Form des Opfer-Erbringens gebunden. Das ist in anderen Ländern nicht so, zumal in denen, für die Krieg nicht auf die Verteidigung oder Ausdehnung der eigenen Landesgrenzen konzentriert ist, sondern seit Jahrhunderten der Einsatz im Rahmen von Interventionen dazu gehört. Dass das keine Friedensmissionen im heutigen Sinne waren, sondern nicht selten koloniale Expansionskriege, spielt dabei nicht die entscheidende Rolle. Wir haben in Deutschland eine andere historische Semantik des Fallens und Verwundet-Werdens. Die wird zurzeit langsam und schrittweise verändert, und diese Transformation der Semantik ist erforderlich, wenn man in Zukunft zu humanitären militärischen Interventionen in der Lage sein will. Denn ganz zweifellos wird von denen, die in deren Rahmen entsandt werden, Opferbereitschaft abverlangt. Eine Gesellschaft, die solche Opferbereitschaft nicht anerkennt und als solche bezeichnet, wird sie auf Dauer von ihren Bürgern, hier denen in Uniform, nicht abverlangen können.
Sonst müsste man sie allein an einer entsprechenden Besoldung festmachen und das würde die Soldaten auf den Status von Söldnern bringen. Dann könnte man auch gleich Blackwater oder eine andere PMC beauftragen. Die Grenzlinie verläuft hier in der Herausstellung einer besonderen Beziehung, die nicht in die Geldform aufgelöst werden kann. Diese Beziehung wird üblicherweise mit der Opfersemantik erfasst. Wer vor ihr zurückschreckt, sollte über Friedensmissionen nicht weiter nachdenken. Oder doch: Er sollte Geld bereitstellen, um sich aus ihnen freikaufen zu können.
Das Interview führte Josef König.
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