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Erste Schritte zur Demokratie - Erinnerungen an die „Wende“ in der DDR

von Pfr. Dr. Karl-Heinz Ducke, Jena

Ostdeutsche Grenzsoldaten vor der geöffneten Berliner Mauer am Brandenburger Tor, 11. November 1989
Foto: © AP Photo / Lionel Cironneau
Akzente kirchlichen Dienstes

Schon vor der Wende war in der katholischen Kirche bewusst: Die Gestaltung der Gesellschaft fordert auch uns!

Die Pastoralsynode im Bereich der damaligen Berliner Bischofskonferenz, die von 1972 bis 1975 in Dresden tagte, formulierte in ihren Beschlüssen Standortbestimmungen der Kirche in der damaligen konkreten gesellschaftlichen Situation. Erinnert sei hier besonders an den Beschluss „Dienst der Kirche für Versöhnung und Frieden“.

Das Katholikentreffen im Juli 1987 brachte eine Neubesinnung auf Öffentlichkeit hin. Besonders die Erarbeitungen des zugeordneten „Kleinen Katholikentreffens“ versuchten, in Rückbesinnung auf die Synodenbeschlüsse, die veränderte gesellschaftliche Situation als Herausforderung für die Existenz der Kirche und das Glaubensbekenntnis des einzelnen Christen neu bewusst zu machen.
Zu bedauern ist die geringe Rezeption der Texte.

Wesentlich für die Rolle der katholischen Kirche in den folgenden gesellschaftlichen Umbrüchen war die Beteiligung katholischer Delegierter an der „Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ 1988/89. Erstmals wurden dabei gesellschaftlich relevante Themen, die bislang „der Partei“ vorbehalten waren, zumindest in innerkirchlicher Öffentlichkeit artikuliert.
Foto: © KMBA / Kluge
„Gott suchen lässt uns nicht die Welt vergessen, sondern lenkt unseren Blick neu auf die Wirklichkeit unseres Lebens. Die Situation in unserem Land zwingt zu Deutung und Auseinandersetzung. Wir sind betroffen über die Vorgänge, die unsere Gesellschaft seit einigen Wochen erschüttert: laut gewordene Resignation, Flucht, Ausweisung, Anwendung von Gewalt. Wir bekennen, dass wir in der Vergangenheit nicht mutig genug die für uns in Gott begründete Würde des Menschen in der Gesellschaft vermittelt und verteidigt haben.“ Mit diesen Worten wandte sich der Pastoralrat des Bischöflichen Amtes Erfurt/Mei-ningen auf dem Pastoraltag am 13./14. Oktober 1989 an die Katholiken und forderte sie auf, „gemeinsam mit den Christen der anderen Konfessionen als einzelne und gemeinschaftlich uns bedrängende Fragen zu thematisieren, Ideen und Können in allen Gruppen einzubringen, die ihre Bereitschaft zur Veränderung erkennen lassen.“ Tageszeitungen druckten zu diesem Zeitpunkt einen solchen Aufruf noch nicht ab. Auch aus der kirchlichen Presse ist er mir nicht bekannt.

Trotz der Gefahr einer permanenten Vereinnahmung durch die verstaatlichte Gesellschaft, die ja nur ein verordnetes Mitmachen kannte, ist es wohl kirchlichem Dienst zu verdanken, dass Menschen auf andere als ideologisch vorgegebene Ideen kommen konnten. Die Verkündigung des Evangeliums mit seiner Freiheitsbotschaft und der Anmahnung der Würde des Menschen war für mich die größte Relativierung ideologischer Beeinflussung. Christliche Verkündigung – auch unter den Bedingungen einer kleinen Diasporagemeinde – verhinderte, dass die offizielle Horizontverengung die Wirklichkeit gänzlich eingrenzen konnte.
Sitzung des sogenannten „Runden Tisches“ in Berlin, 22. Januar 1990
Ausdrücklich gilt es hier all denen Danke zu sagen, die sich nicht durch Kontrollen und Schikanen an den Grenzen abschrecken ließen, uns durch einfallsreichen Bücherschmuggel an den geistigen Prozessen im „Westen“ teilhaben zu lassen!

„… da waren wir alle wie Träumende.

Mit diesen Worten wird in der Bibel (Psalm 126,1) die Reaktion des Volkes Israel auf das plötzliche und unerwartete Ende seiner Gefangenschaft in Babylon beschrieben. Die „weltliche“ Übersetzung für dieses Gefühl, wirklich Unerwartetes zu erleben, Grenzen überschreiten zu können, hieß 1989 schlicht „Wahnsinn!“ Die Israeliten machten sich damals auf, nach Hause zu gehen, ihr zerstörtes Land wieder aufzubauen. Die Menschen in der DDR machten sich 1989 erst einmal auf den Weg in ein ihnen bisher verschlossenes, unbekanntes Land. (Leider damals von einigen Politikern als Weg zur Banane gedeutet!) Bislang Vorenthaltenes wurde erkundet, der bisher verbaute Horizont erweitert.
Alles war in Bewegung. Aber wie sollte es nun weitergehen? Sollte man die Macht, die, wie einige heute meinen, auf der Straße lag, einfach an sich reißen? Wäre das der Weg in die ersehnte Demokratie gewesen?

Es ist für mich die bedeutendste Erinnerung an den Herbst 1989, dass sich Menschen fanden, die Verantwortung übernommen haben. Sie forderten persönlich – trotz aller erlittener Diskriminierung – nun öffentlich Freiheit und eine gerechte, friedvolle und zukunftsfähige Gesellschaft.

Klein war ihre Zahl. Aber sie hatten Mut, sich auf einen Dialog mit den bisher an der Regierung beteiligten Parteien einzulassen. Die Idee eines „Runden Tisches“ war geboren. Das Beispiel Polen stand Pate.
Fotos (2): © Bundesregierung / Lehnartz
Aber wer sollte einladen, dass wirklich alle kamen?
Auch die SED versuchte eine Einladung. Wäre da jemand hingegangen, der Veränderung wollte?! So erinnerte man sich plötzlich an das „Dach der Kirche“ und bat die evangelische Kirche, die Einladung zu diesen Gesprächen auszusprechen. Diese Initiative wurde ökumenisch erweitert. Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen und die katholische Kirche wurden zu Miteinladern. So wurden Kirchenvertreter zu Vermittlern, zu Moderatoren des Runden Tisches in Berlin. Die Kirchen wurden in Dienst genommen, um ihrer ureigensten Verpflichtung gerecht zu werden: für die Menschen da zu sein. Gewiss war es die „Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ von 1988 und 1989, die erstmals gesellschaftlich relevante Themen, die bislang der Partei vorbehalten waren, zumindest in innerkirchlicher Öffentlichkeit artikulierte, die für Vertrauen in die Kirchen gesorgt hat. „Rund“ war er nie, der „Runde Tisch“. Aber die Debatten an ihm – live vom DDR-Fernsehen übertragen – haben Mut gemacht, sich nun selbst um die Zukunftsgestaltung zu kümmern und sich in die Politik einzubringen. Ich bin dankbar, als Mitmoderator dieses „Lehrstück in Graswurzelparlamentarismus“ (Uwe Thaysen) miterlebt und auch etwas mitgestaltet zu haben.
Der Runde Tisch hat nur drei Monate lang getagt. Dann war das wichtigste Ziel erreicht: die ersten freien Wahlen zu einer wirklichen Volkskammer der DDR!

Eine neue Republik konstituierte sich.

Diese Monate höchster politischer Aktivitäten – ohne jede parlamentarische Legitimation, nur von „der Sorge um unser … Land“ getragen – sind relativ vergessen. Andere Erinnerungen überlagern die Zeit bis zur neuen Einheit beider deutschen Staaten am 3. Oktober 1990. Bildhaft sind die Grenzöffnung in Ungarn, der Kampf der Botschaftsflüchtlinge, die Oktoberdemonstrationen, der Mauerfall am 9. November 1989 und schließlich die Feiern zum Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990.
Die Wegbereiter dieses Weges sollten nicht vergessen sein! Erinnerung darf keine Nostalgie oder gar „Ostalgie“ werden. Sie soll von Zeitzeugen getragen, der heutigen Generation helfen, sich wesentlicher Wurzeln ihrer Identität bewusst zu werden.

Pfr. Dr. Karl-Heinz Ducke, Jena