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Religionen vermitteln verbindliche Moralregeln

Einschätzungen zweier Politiker aus West und Ost

Jörg Schönbohm (CDU), Generalleutnant a. D. des Heeres der Bundeswehr, ehemals Staatssekretär für Sicherheitspolitik, Bundeswehrplanung und Rüstung im Bundesministerium der Verteidigung und Innensenator in Berlin, ist seit 1999 Innenminister des Bundeslandes Brandenburg.
Foto: © Ministerium des Innern Brandenburg
Kompass: Mit Rückblick auf die innergesellschaftliche Situation in der damaligen DDR im Kontext der sich abzeichnenden Ereignisse – wie bewerten Sie die Rolle, welche die Kirchen zum damaligen Zeitpunkt eingenommen haben?

Jörg Schönbohm: Die Kirchen waren in der DDR massiver Unterdrückung ausgesetzt. Die Gesellschaft sollte systematisch entchristlicht werden. Mit Erfolg: heute bezeichnen sich über 70 % der Ostdeutschen als konfessionslos. In Westdeutschland sind es lediglich 19 %. Dennoch blieb die Kirche immer auch ein Hort des Widerstandes und Ungehorsams. Nicht ohne Grund nahm die friedliche Revolution von 1989 ihren Ausgang in den Montagsandachten in der Leipziger Nikolaikirche.

Gregor Gysi: Die katholische Kirche hat die Anerkennung der DDR nie wirklich vollzogen. Allerdings scheiterte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vornehmlich an der Frage, ob der Nuntius den Doyen des diplomatischen Korps stellt oder nicht. Trotzdem blieben die Bistümer anders als die Grenzen aufgeteilt.

Die evangelischen Kirchen in der DDR haben diese anerkannt und sich in der DDR eingerichtet. Im Unterschied zur katholischen Kirche waren sie aber die Einrichtungen, in der Schritt für Schritt die Opposition Platz erhielt, sich organisierte, öffentlich Stellung bezog. Von den evangelischen Kirchen ging deshalb ein wichtiger Impuls für die Wende 1989 aus.

Kompass: Worauf führen Sie es zurück und welche Ursachen würden Sie nennen, um zu erklären, warum nach dem Fall der Mauer und der Öffnung der innerdeutschen Grenze sich die Bedeutung der Kirchen in den dann „neuen Bundesländern“ veränderte?

Jörg Schönbohm: In der DDR der 80er-Jahre erwies sich die Kirche zunehmend als Impulsgeber für einen Demokratisierungsprozess. Nach der Wiedervereinigung büßte sie diese Funktion weitgehend ein. In der Bundesrepublik brauchen sich Andersdenkende und Dissidenten nicht mehr in den Schutz der Kirche flüchten.

Dr. Gregor Gysi, Rechtsanwalt und Politiker (Die Linke), ehemals Vorsitzender der Bundestagsgruppe der PDS und von 1998 bis 2000 der PDS-Bundestagsfraktion, Vorsitzender der SED-PDS bzw. PDS, Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen des Landes Berlin, ist seit 2005 Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion im Bundestag.
Foto: privat
Gregor Gysi: Die veränderte Bedeutung der Kirchen nach dem Fall der Mauer hing damit zusammen, dass Nichtgläubige die evangelischen Kirchen nicht mehr benötigten, um ihren Widerspruch zur DDR zu artikulieren. Sie hatten nun eigene gesellschaftliche Strukturen gefunden. Es gab nur noch einen Grund, die katholische bzw. evangelische Kirche aufzusuchen, nämlich eine entsprechende religiöse Bindung. Soweit diese nicht vorlag, entfiel eine Frequentierung der Kirchen. Allerdings waren mit der Religionsausübung keine Nachteile mehr verbunden, so dass erwartet wurde, dass sich deutlich mehr Menschen zum Christentum bekennen würden.

Tatsächlich nahm die Zahl derjenigen, die aus religiösen Gründen die Kirchen aufsuchten, auch zu, aber weniger als erwartet. Die Mehrheit der Bevölkerung im Osten ist nach wie vor nicht religiös gebunden.

Kompass: Welche Bedeutung, welche Rolle messen Sie in der zunehmend stärker säkularisierten bundesdeutschen Gesellschaft den Religionen, dem Glauben und der Kirche bei?
Jörg Schönbohm: Die Kirche hat durch ihre Korrektivfunktion nach wie vor eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Religionen vermitteln allgemein verbindliche Moralregeln und grundlegende Werte. Je mehr diese in den Hintergrund treten, desto eher dominieren Rücksichtslosigkeit und Unredlichkeit, desto mehr verlottert eine Gesellschaft.

Gregor Gysi: Bekanntlich ist der Staatssozialismus gescheitert, so dass die Linke längere Zeit kaum in der Lage ist, allgemein verbindlich Moralnormen aufzustellen. Der Kapitalismus bringt solche Moralnormen nicht hervor, da er vornehmlich auf Konkurrenz setzt. Ohne die Religionen, ohne den Glauben, ohne die Kirchen gäbe es keine Grundlage für allgemein verbindliche Moralnormen gegenwärtig in unserer Gesellschaft. Das hätte zerstörerische Konsequenzen. Obwohl ich nicht religiös bin, fürchte ich also eine gottlose Gesellschaft nicht weniger als jene, die religiös gebunden sind.

Das Interview führte Josef König.