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Ende einer Diktatur

Matthias Drobinski, Redaktion Innenpolitik, Süddeutsche Zeitung
Foto: © Süddeutsche Zeitung
Vielleicht ist der Tag deshalb nicht so recht im kollektiven Bewusstsein verankert, weil es so wenige Bilder gibt, keine bunten, ausgelassen fröhlichen wie vom 9. November 1989. Der 9. Oktober 1989 lebt in Schwarz-Weiß-Aufnahmen fort, die Menschen darauf wirken ernst und ein bisschen verlegen angesichts der Macht, die sie auf einmal haben. Am 9. Oktober zogen 70.000 Demonstranten von der Nikolaikirche und anderen Kirchen der Stadt über den Leipziger Ring. Volkspolizei und Nationale Volksarmee der DDR hatten den Befehl, den Zug aufzulösen, notfalls mit Gewalt. Doch dann geschah das Wunder. Die Polizei zog sich zurück, die Panzer blieben in den Kasernen, die Gewaltigen der DDR hatten mit einem Aufstand gerechnet, nicht mit Menschen, die friedlich Kerzen trugen.

Für viele ehemalige Bürgerrechtler, für Christen und solche, die in den Kirchen Unterschlupf fanden, ist deshalb der 9. Oktober der Tag, an dem die Macht der Diktatur zerbrach, nicht der 9. November. Sie sagen auch nicht gerne „Wende”, sie sagen „friedliche Revolution“. Wende ist für sie das Wort der SED-Funktionäre, die den Eindruck erwecken wollten, sie hätten das Ruder in der Hand und selber das Steuer herumgerissen. Und eigentlich haben sie recht. Der 9. Oktober 1989 gehört zu den wenigen Momenten der Weltgeschichte, an denen die Ohnmächtigen stärker waren als die Mächtigen. An jenem Montag im Oktober überwanden die Bürgerrechtler, Umweltaktivisten und Friedensbeter die Realitäten, sie ließen das Große nicht groß bleiben und das Kleine nicht klein. An diesem Abend besiegten in Leipzig, Dresden, Berlin und anderswo der Mut und die Zivilcourage die Untertanenangst. Der 9. Oktober könnte deshalb ein sehr deutscher Feiertag sein.

Gedenktag der Unbequemen

Er ist es nicht geworden, und das liegt nicht nur an den Schwarz-Weiß-Bildern. Der 9. Oktober ist der Tag der DDR-Oppositionellen – jener, die in der DDR ohne Heimat waren und die in der Bundesrepublik geehrte und doch fremde Gäste blieben. Es ist der Tag der Leute aus den Friedensgruppen, Umweltbibliotheken, Literaturzirkeln. Sie stießen sich nicht daran, dass es der DDR an Bananen,
Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche, Herbst 1989
Foto: © Dorndeck
Levis-Jeans und ordentlichen Autos mangelte. Ihnen fehlten die Freiheit zum Andersdenken und die Luft zum Atmen; sie wollten ihre Kinder nicht zum Hass auf den Klassenfeind erziehen. Sie waren in der DDR die Minderheit der Empfindlichen und Empfindsamen. Sie waren, was heute oft übersehen wird, auch in den Kirchen marginal: Nur wenige evangelische Gemeinden öffneten der Opposition die Tür; in Leipzig durfte Pfarrer Wonneberger die Montagsgebete nicht mehr leiten, die er in den 80er Jahren initiiert hatte. Die katholische Kirche widerstand der Versuchung allzu großer Staatsnähe besser als die evangelische, allerdings um den Preis, dass sie eine manchmal geradezu exterritoriale Gemeinschaft bildete, fremd jener anderen Minderheit, die die Verhältnisse in der DDR ändern wollte.
Fünf Wochen nur währte die Zeit dieser Opposition mit ihrer Unbedingtheit, dem Moralüberschuss und den Utopien vom Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Dann fiel die Mauer, der Westen war da. Menschen mit Moralüberschuss werden in diesem Westen als „Gutmenschen” belächelt.

Und so ist der 9. Oktober der Gedenktag der Unbequemen, derer, die an den Verhältnissen litten und sich nicht mit den Gegebenheiten abfinden wollten. Sie setzten dafür ihre Existenz aufs Spiel, lieferten sich den Zersetzungs-methoden der Stasi aus. Oppositionen dieser Art sind meist nicht regierungsfähig, und zum Glück ist nicht alles Wirklichkeit geworden, was im Herbst der DDR geträumt wurde. Doch diese Opposition war der Sauerteig, der zur rechten Zeit aufging. Jede menschliche Gesellschaft braucht diese Quertreiber für das Gute – auch die heutige Bundesrepublik, die wenig mit diesem Erbe der friedlichen Revolutionäre aus den Kirchenkellern anfangen kann. Sie nerven, die Quertreiber. Sie übertreiben. Sie sind kompromisslos. Sie stören den Betrieb des Staates und der Verwaltungen, der Gewerkschaften, Parteien, Kirchen, Unternehmen. Doch ohne sie verfettet die Demokratie – wie jemand, der nur süßen Brei isst und nie Schwarzbrot kaut.

Matthias Drobinski
Redaktion Innenpolitik Süddeutsche Zeitung