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Welches Recht gilt?

Am 4. September 2009 traf Oberst Klein in Afghanistan den folgenreichen Beschluss, zwei Tanklastzüge bombardieren zu lassen. In deren Nähe hielten sich viele Menschen auf, Taliban-Kämpfer und Zivilpersonen. 142 Menschen kamen ums Leben, darunter Zivilisten. Durfte Klein dies tun? Diese Frage soll hier nicht primär rechtlich, sondern politisch-ethisch bedacht werden.

Jedes Urteil über ein bestimmtes Handeln beruht auf zwei Säulen. Die eine besteht aus einer Normaussage, die andere aus einer Tatsachenfeststellung. Nehmen wir an, Peter schlägt Hans mit der Faust dermaßen fest ins Gesicht, dass dieser ohnmächtig wird. Wenn Peter hierfür bestraft wird, dann weil Körperverletzung verboten (eine Normaussage), und weil ein Faustschlag ins Gesicht eine Körperverletzung darstellt (Tatsachenfeststellung).

Einen Menschen ohnmächtig zu schlagen, ist aber nicht immer verboten. Im Boxkampf ist es erlaubt. Allerdings ist auch im Boxkampf nicht jede Form von Gewalt erlaubt. Wenn ich mich also frage, ob Oberst Klein richtig gehandelt hat, muss ich auch fragen, welche Regeln für sein Handeln gelten. Um diese Frage zu beantworten, muss ich die Situation klären, in der Klein handelte. Ging es damals um eine Aufbausicherung, dann galten die Restriktionen des Friedensvölkerrechts, bekämpfte er eine Aufstandsbewegung, dann galten die hierfür einschlägigen Regeln des humanitären Völkerrechts (Beitrag von Stefan Oeter auf S. 4–7). Diese Frage soll hier nicht weiter geklärt werden.

Mir geht es um ein anderes Problem: In einem Boxring gelten andere Gewaltbeschränkungen als auf der Straße. Heißt das, dass ich mich, wenn ich in einen Boxring gerate, nach den Regeln des Boxkampfes verhalten soll? Keineswegs! Nur dann, wenn es gute Gründe gibt, diesen Boxkampf zu führen. Anderenfalls werde ich den Boxring schnellstmöglich verlassen.

Beteiligung an einem Bürgerkrieg?

Die Frage, nach welchem Recht unsere Soldaten in Afghanistan kämpfen dürfen, ist nur in vordergründiger Weise eine Frage, die von den vorherrschenden Verhältnissen beantwortet wird. Mag sein, dass ein Einsatz deutscher Soldaten unter Beschränkungen des im Rahmen des Friedensvölkerrechts polizeilich Erlaubten angesichts einer militärischen Aufstandsbewegung undurchführbar ist. Mag auch sein, dass die sehr generellen Ermächtigungen des UN-Mandates für ISAF und des Beschlusses des Deutschen Bundestages den Schritt der Gewalteskalation rechtlich decken würden. Ist damit aber die Frage beantwortet, ob Deutschland sich an einem Bürgerkrieg in Afghanistan beteiligen soll? Das ist primär eine politische Frage, die auch ethisch zu reflektieren ist.

Man muss sich klar machen, dass es beim Übergang von polizeilichen Aufgaben zum Bürgerkrieg nicht nur um die Frage geht, ob man Taliban-Kämpfer auch außerhalb von Notwehrsituationen töten darf. Vielmehr handelt es sich um einen ganz anderen Einsatz, in dem ein anderes Ziel und mit anderen Mitteln angestrebt wird. Es geht nicht darum, irgendwelche kriminellen Elemente zu bekämpfen, die ihr partikulares Interesse auf Kosten des Gemeinwohles verfolgen wollen. Eine Aufstandsbewegung stellt vielmehr eine gegebene Ordnung in ihrer Legitimität in Frage.

Fragen wir anders herum: Hätte sich die Bundesrepublik an ISAF beteiligt, wenn von vornherein festgestanden hätte, dass wir an einem Bürgerkrieg teilnehmen und nicht nur polizeiliche Aufgaben übernehmen? Vielleicht ja! Offensichtlicher Weise hätte man hierfür aber ganz andere Gründe beibringen müssen, als es für die Beteiligung an der Aufbausicherung notwendig war.

Offene Fragen

Wie es scheint, schlittern wir von einer Aufbausicherungsmaßnahme in einen Bürgerkrieg, indem wir so tun, als hätte uns dies die Entwicklung der Dinge nun einmal aufgenötigt. Hier liegt m. E. ein Grundproblem der Sicherheitspolitik der letzten Jahre. Sie ist nicht Produkt eines breiten Konsenses, der am Ende einer alle Schichten und Gruppen unserer Gesellschaft umfassenden, von Sachkunde und ethischen Qualifikationen geprägten Debatte steht. Durfte Oberst Klein handeln, wie er es tat? Dies ist nicht zuletzt eine Frage an unser Selbstverständnis: Für welche Ziele, mit welchen Mitteln und nach welchen Regeln wollen wir unseren Soldaten zumuten, zu kämpfen, zu töten und vielleicht auch zu sterben?

Prof. Dr. Gerhard Beestermöller,
stellv. Direktor des Instituts für Theologie und Frieden (ithf), Hamburg