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Gerechtigkeit

Dr. Matthias Gillner, Dozent für Katholische Sozialethik an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg
Durch eine allzu breit gestreute Berufung auf Gerechtigkeit wird der Begriff arg strapaziert. Manchmal spiegeln Gefühle der Empörung oder Klagen über Ungerechtigkeiten nur die Enttäuschung über mangelnde Hilfeleistung wider oder zeigen die Ablehnung nicht geteilter Lebensorientierungen an. Genauer gefasst bezieht sich der Gerechtigkeitsbegriff auf den Bereich von Handlungen und Einstellungen, die Personen einander gegenseitig schulden. Barmherzigkeit und verdienstliche Handlungen sind zwar gewiss positiv zu würdigen, können aber nicht strikt eingefordert werden. Auch der Umgang mit sich selbst, die persönliche Lebensgestaltung ist weithin nicht nach Kriterien der Gerechtigkeit zu beurteilen.

Gerechtigkeit als Tugend

In der antiken Philosophie wird Gerechtigkeit vorwiegend als personale Haltung bestimmt. Für Platon harmonisiert die Tugend der Gerechtigkeit die verschiedenen Seelenteile (Begierde, Affekt, Vernunft) hinsichtlich der ihnen zukommenden Aufgaben. Analog ordnet sie auch die unterschiedlichen Stände (Erwerbstätige, Wächter, Herrscher) des organisch als „Mensch im Großen“ gedachten Staates. Die bekannteste Formulierung dieser Vorstellung findet sich beim römischen Juristen Ulpian (170–228): „Gerechtigkeit ist der feste und dauerhafte Wille, jedem das Seine zuzuteilen.“
Von dieser umfassenden Bestimmung grenzt Aristoteles die spezielle Gerechtigkeit der Zumessung von Gütern ab: Die austeilende Gerechtigkeit weist Personen Ämter oder materielle Güter nach Maßgabe ihres Verdienstes zu, während die ausgleichende Gerechtigkeit sich bei eingegangenen Verträgen oder erlittenen Verbrechen an der Gleichheit von Gabe und Gegengabe orientiert. In den scholastischen Begriffen der Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva) und der Tauschgerechtigkeit (iustitia commutativa) findet die aristotelische Unterscheidung ihren prominentesten Ausdruck.
Auch wenn sich in der Neuzeit die Gerechtigkeitsfrage zunehmend auf die Eigenschaft von Handlungen konzentriert, bleibt sie nicht nur im Blick auf die charakterliche Eignung von gesellschaftlichen Funktionseliten aktuell.

Soziale Gerechtigkeit

In der zeitgenössischen Debatte hat sich der Schwerpunkt auf institutionalistische Ansätze verlagert. Mit einer detailliert ausgearbeiteten Gerechtigkeitstheorie begründet der US-amerikanische Philosoph John Rawls (1921–2002) den demokratischen Wohlfahrtsstaat. Im Zentrum seiner Konzeption von Verteilungsgerechtigkeit stehen zwei Grundsätze: Der Gleichheitsgrundsatz schließt rechtliche Diskriminierungen aus und fordert das größtmögliche Maß an gleichen Grundfreiheiten für alle. Der Differenzgrundsatz lässt wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten unter der Bedingung zu, dass sie die am wenigsten Begünstigten besser stellen (als in einem egalitären System) und dass die mit den Vorteilen verbundenen Positionen jedem offen stehen (faire Chancengleichheit). Dagegen kritisieren Marktliberale diese Idee des Sozialstaats als ungerechtfertigte Freiheitseinschränkung. Kommunitaristen wiederum lehnen die universalistische Begründung beider Grundsätze ab und betonen im Gegenzug deren Abhängigkeit von kulturellen Vorgegebenheiten.

Gegenwärtig wird die Gerechtigkeitsdebatte auf traditionell vernachlässigte Themen ausgeweitet: auf die Gerechtigkeit gegenüber zukünftigen Generationen sowie auf Fragen der internationalen und globalen Gerechtigkeit.

Die US-amerikanischen Bischöfe versuchen in ihrem Wirtschaftshirtenbrief von 1986 die Gerechtigkeit vom Grundrecht auf Beteiligung her neu zu bestimmen. Soziale Institutionen sollen die Mitwirkung aller Menschen am gesellschaftlichen Leben ermöglichen und strukturelle Defizite politischer oder wirtschaftlicher Mitbestimmung abbauen. In seiner Orientierung auf die von der gesellschaftlichen Beteiligung Ausgeschlossenen überzeugt dieser Ansatz als Übersetzung des biblischen Leitbildes von Gerechtigkeit: der Option für die Armen.